Hamburg. Die Verschiebung der Olympischen Spiele war zu erwarten. Dennoch müssen die Sportler lernen, sich erst einmal damit abzufinden. Sportpsychologe Thorsten Weidig empfiehlt seinen Klienten, sich zunächst um andere Dinge als Sport zu kümmern.

Die Absage der Olympischen Spiele in diesem Sommer in Tokio war wegen der Corona-Pandemie erwartet worden. Nun beginnt für viele Sportler eine neue Phase der Unsicherheit.

Über das Sportliche hinaus stehen Lebensentwürfe oder berufliche Pläne durch die Verschiebung zur Disposition. Die Unsicherheit gehe "einher mit einem entsprechenden Gefühlschaos von Hilflosigkeit und vielleicht auch Ängstlichkeit, aber auch Ärger, weil man sich vorbereitet hat und jetzt nicht kann", sagte Sportpsychologe Thorsten Weidig der Deutschen Presse-Agentur. Wichtig ist aus Sicht des 46-Jährigen, der auch Sportler am Olympiastützpunkt in Hamburg betreut, dass die Athleten erst einmal eine Distanz zu den Ereignissen schaffen.

Die Olympischen Spiele sind nach langem Zögern wegen der Corona-Krise verschoben worden. Ist es entlastend für die Sportlerinnen und Sportler, dass jetzt Klarheit besteht?

Thorsten Weidig: Gewissheit ist immer besser. Wenn ich nicht weiß, wo die Straße hinführt, ist es schwierig, den richtigen Weg zu finden. Bei mir hat die Betreuungsintensität nicht abgenommen, seit die Corona-Krise ausgebrochen ist. Die Sportler suchen Orientierung. Sie sind sonst in ein System eingebunden, das sehr strukturiert und organisiert ist. Das ist ein Uhrwerk, das läuft. Und wenn das Uhrwerk nicht mehr läuft, ist die Frage ganz groß: Was mache ich denn jetzt und wofür? Die Unklarheit, die bis Dienstag herrschte, war das Schwierigste an der Situation.

Nun ergibt sich für die Athletinnen und Athleten durch die Verschiebung eine neue Ungewissheit. Für den persönlichen sportlichen Bereich, aber auch für Lebens- und Berufsplanung oder Finanzierung. Was geht in ihnen vor?

Weidig: Unsicherheit, und das kann ich sehr gut verstehen. Das geht auch einher mit einem entsprechenden Gefühlschaos von Hilflosigkeit und vielleicht auch Ängstlichkeit, aber auch Ärger, weil man sich vorbereitet hat und jetzt nicht kann. Sportler wissen, dass es im Moment Wichtigeres als Olympia gibt. Trotzdem sind die Gefühle ja da. Ich finde es erst einmal wichtig, diese Gefühle zu akzeptieren und auch zuzulassen und sie nicht wegzurationalisieren.

Wie sollen die Sportlerinnen und Sportler mit dem von Ihnen beschriebenen Gefühlschaos umgehen?

Weidig: Ich finde erst mal eine innere Distanzierung ganz wichtig, um sich von den aktuellen Ereignissen und den Geschehnissen der letzten Tage lösen zu können. Auf Durchzug schalten, um dann den Blick frei zu bekommen für Fragen wie: Was möchte ich jetzt? Mach ich weiter und bau ich meine Form neu auf? Oder dass man sagt, es gibt triftige Gründe, sich nicht mehr auf 2021 vorzubereiten. Ich finde diese Distanzierung sehr wichtig, weil sonst die Gefahr da ist, dass ich im gedanklichen Hamsterrad drin stecke und mich von den aktuellen Ereignissen - die sich nicht gut anfühlen - zu sehr negativ beeinflussen lasse.

Wie läuft Ihr Kontakt zu den Sportlern?

Weidig: Ich biete zwei Möglichkeiten an: Virtuell, das nehmen einige an. Also der Klassiker wie Skype. Andere dagegen freuen sich drauf, wenn wir uns persönlich treffen und z.B. spazieren gehen. Natürlich unter Einhaltung der derzeitigen Schutzmaßnahmen.

Gibt es Unterschiede in den Bedürfnissen von Sportlern aus Mannschaft-Sportarten und Individual-Sportarten?

Weidig: Ja. Das hat man auch durch Studien belegt, dass Mannschaftssportler nicht zufällig Mannschaftssportler sind und dass deren Motivation stärker vom Bedürfnis nach gemeinsamem Sporttreiben beeinflusst wird. Dagegen haben Individualsportler nicht so ein großes Bedürfnis - zumindest was das Sporttreiben betrifft - an Gemeinschaft.

Zeigen sich die Unterschiede in der aktuellen Situation?

Weidig: Das schlägt sich auch jetzt nieder. Für einen Ruderer ist dann doch das Bedürfnis stärker, die Gemeinschaft mit der Freundin, Freunden oder Familie zu haben, aber nicht unbedingt mit Kollegen aus dem Boot. Dagegen bauen Mannschaftssportler stärker ihr soziales Umfeld aus denjenigen, mit denen sie Sport treiben.

Jeder Sportler verkraftet belastende Situationen anders. Warum gibt es welche, die gut damit umgehen, andere indes in die Knie gehen?

Weidig: Wenn Sportler relativ früh gelernt haben - sprich im Jugendalter -, mit Schwierigkeiten und Herausforderungen konfrontiert zu sein und mit ihnen umzugehen, ist das eine gute Grundlage, dass der Sportler das auch im Erwachsenenalter schafft. Daher ist mein Credo, im Jugendalter schon einen mentalen Werkzeugkasten zu entwickeln. Die Resilienz kann sehr gut im Kinder- und Jugendalter angelegt und trainiert werden.

Haben Sie in diesem Corona-Zeiten mehr zu tun?

Weidig: Ich würde schon sagen, dass es ein bisschen zugenommen hat. Ich sage zu meinen Sportlern aktuell: Macht was anderes und in drei Wochen nehmen wir die Arbeit wieder auf. Das mache ich in Saisonpausen auch. Für mich ist das eine Saisonpause, die jetzt einsetzt. Ich empfehle den Sportlern, die Saisonpause für sich sinnvoll zu nutzen, dass sie den Fokus auf andere Dinge legen und Energie tanken können.

ZUR PERSON: Thorsten Weidig betreut als Sportpsychologe Sportler und Sportlerinnen. Derzeit arbeitet der 46 Jahre alte Wahl-Hamburger unter anderen mit den Nationalteams der Hockey-Herren und der Volleyball-Damen sowie Athleten am Olympiastützpunkt in Hamburg zusammen. Er ist auch Professor an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport in Berlin. Von 2010 bis 2013 war er Sportpsychologe beim damaligen Fußball-Bundesligisten Hamburger SV.