Berlin. In „Über Menschen“ erzählt die Bestsellerautorin von Stadtflucht, Dorfgemeinschaft, Linken und Rechten, Deutschland und – Corona.

Sadie ist noch so eine, die mit einem Male einfach bei Dora in der Küche steht. Süffelt einen Kaffee nach dem anderen. Erzählt. Vom Pendlerjob in Berlin und den Nachtschichten in der Gießerei. Sie kann nur so tagsüber für ihre Kinder da sein. Sie ist allerziehend. Geschlafen wird am Wochenende. Sadie sagt, dass sie keine „Multikultis“ mag, und: „Ich schufte mich krumm, und die Ausländer kriegen alles hinten reingeschoben.“

Das kann in einem Roman einfach so stehen, ist nicht der Rede wert. Das Ungeheuerliche ist jedoch, dass man als Leserin und Leser diese Sadie nicht unsympathisch findet. Obwohl sie rassistisch daherredet. Dora hat sogar Ehrfurcht vor Sadie; vor ihrer Unbeugsamkeit, ihrem Optimismus, ihrer Tatkraft, ihrer unverstellten Art. Dora ist erst vor Kurzem aus Berlin nach Bracken gezogen, ins Umland also. In die Leere. In ein abgerocktes Gutsverwalterhaus mit riesigem, verwildertem Grundstück.

Neuer Roman von Juli Zeh: Lockdown und Landschock

Dora ist die Heldin in Juli Zehs neuem, erstaunlichem Roman „Über Menschen“. Eine Heldin der Provinz, die sich daran gewöhnen muss, dass Busse nur alle paar Stunden fahren und es nichts mehr gibt. Keine Ärzte, keine Schulen, keine Kneipen.

Dora erleidet eine Art Landschock. Es ist der Frühling des Jahres 2020, das Land befindet sich im Lockdown. Wegen Corona verliert die Mittdreißigerin nach ihrem Umzug aufs Land ihren Job in einer Berliner Werbeagentur. Die Landflucht war eigentlich eine vor ihrem überpolitisierten Lebensgefährten, eine Art Eskapismus: Nur raus aus dem Kessel von Kreuzberg mit seinen Moralaposteln, Gutmenschen und Lifestyle-Elitisten. Aber im Grunde ist Dora ja eine von ihnen. Auch sie weiß immer genau, wo der Feind steht. Rechts.

Der direkte Nachbar nennt sich „Dorf-Nazi“

Und was passiert in Bracken? Der direkte Nachbar, ein Mann, den sie Gote nennen, eigentlich heißt er Gottfried Proksch, entpuppt sich als Ausländerhasser. Er nennt sich selbst den „Dorf-Nazi“. Er ist, wie Dora aber erst später erfahren wird, im Gefängnis gewesen wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Linken.

Da hat sie sich schon längst in einem sozialen Manöver, das den eigenen Gesetzen der Dorfgemeinschaft, die zusammenhält, folgt und die Zugezogene mit dem rauen Charme der Erdverbundenheit überrumpelt, mit ihm angefreundet. Gote streicht ihr Zimmer, Sadie bringt Saatkartoffeln, Heini säbelt den Wildwuchs weg. Heini spricht aber auch wie selbstverständlich von „Pflanzkanacken“, wenn er die südeuropäischen Erntehelfer meint.

Und das schwule Pärchen von nebenan hat den Aufkleber der geächteten rechten Partei an der Tür kleben. Einer der beiden Männer ist Kleinkünstler und schimpft trotzdem in seinem Programm über den „Abschaum“, die „Übermenschen im Unterhemd“, über Nazis wie Gote also. Dora muss viel nachdenken angesichts all der Widersprüche, die ihr in Bracken begegnen.

"Über Menschen": Aus dem Holz der Leitartikler geschnitzt

Erzählerischen Mut legt Juli Zeh an den Tag, weil sie den Fremdenfeinden vom Dorf jede Eindimensionalität nehmen will. Der Nazi ist hier eben nicht Klischee, jedenfalls nicht als Bösewicht. Zeh hat sich auch in ihrem 800.000-mal verkauften Bestseller „Unter Leuten“ als Erkunderin des Homo Brandenburgensis versucht. In „Über Menschen“ ist sie mehr denn je die Verteidigerin der sich vom Zeitgeist ausgegrenzt Fühlenden.

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So anstrengungslos gegenwartsbezogen Juli Zeh ihre Romane zu schreiben scheint, so passgenau ihre Figurenrede aus dem Holz der Leitartikler geschnitzt ist: Sie bleibt eine Meisterin des Plot-getriebenen Erzählens.

Die Menschen in ihren Romanen sind lebendig, und selbst, wenn man sie nicht mal originell findet, heftet man sich an ihre Fersen: Sie sind wie wir, wie könnten sie uns nicht interessieren? „Über Menschen“ ist ein betrübliches Märchen, bei dem man darüber streiten kann, ob am Ende jeder das bekommt, was er verdient.