Berlin. Sie hatten auf günstige Preise bei Strom und Gas vertraut – plötzlich stehen tausende Verbraucher ohne Vertrag da. Das raten Experten.

Extrem hohe Beschaffungskosten für Strom und Gas auf den Rohstoffmärkten sorgen für ein bisher unbekanntes Phänomen: Tausende Kundinnen und Kunden sind von ihren Anbietern aus ihren Strom- und Gasverträgen geworfen worden – rückwirkend und völlig ohne Vorwarnung. Wie sollten Betroffene darauf reagieren?

Rauswurf aus dem Vertrag: Welche Strom- und Gasanbieter gehen so vor?

Einen genauen Überblick darüber, welche Anbieter ihre Verträge aufgelöst haben, gibt es noch nicht. Laut Bundesnetzagentur hatten bis Ende Dezember 38 Unternehmen angezeigt, die Lieferung von Strom beenden zu wollen.

Eines der bekanntesten ist die Stromio GmbH, ein selbst ernannter Energiediscounter mit Sitz in Kaarst bei Düsseldorf, der seit 2009 am Markt vertreten ist. Allein bei Stromio könnten nach Angaben der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen etwa 700.000 Strom- und 300.000 Gaskunden betroffen sein. Diese bekamen kurz vor Weihnachten oder in den ersten Tagen des neuen Jahres eine Mail samt außerordentlicher Kündigung – rückwirkend.

„Heute kommen wir leider mit einer unerfreulichen Nachricht auf Sie zu“, heißt es in dem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt. „Wir kündigen hiermit den zwischen uns bestehenden Stromliefervertrag mit Ablauf des 21.12.2021. Zu diesem Termin haben wir die Belieferung mit Strom eingestellt. Wir bitten um Ihr Verständnis für diese Entscheidung, die uns sehr schwergefallen ist.“

Zeitgleich bekommen Betroffene ein Schreiben eines anderen Energieanbieters, der die Ersatzlieferung übernimmt, damit die Kunden nicht ohne Strom oder Gas dastehen. Die Tarife für die Ersatzleistung sind meist deutlich teurer.

Was sind die Gründe für dieses Verhalten?

Zur Begründung schreibt Stromio in der Mail, dass „die fortlaufenden Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten sowie die Kündigung unseres Bilanzkreisvertrags durch den Übertragungsnetzbetreiber“ es unmöglich machten, die Versorgung mit Strom oder Gas fortzusetzen.

Der Anbieter beschreibt eine „nie da gewesene Preisexplosion an den europäischen Energiehandelsplätzen“. Der Strompreis für Lieferungen in der Winterzeit habe sich auf den Beschaffungsmärkten in der Spitze um mehr als 400 Prozent erhöht. Die Ursachen seien „in einem außergewöhnlichen Zusammentreffen verschiedener Faktoren zu sehen“.

Diese Aussage entspricht Marktanalysten zufolge der Realität. Gleichwohl seien die Anbieter selbst für einen Teil ihrer Misere mitverantwortlich, sagt Christina Wallraf, Energiereferentin der Verbraucherzentrale NRW. „Viele haben sich verkalkuliert.“

Vor allem zur Hochzeit der Corona-Pandemie 2020 habe es sehr niedrige Preise für kurzfristig beschaffte Energie gegeben. „Einige Anbieter haben damit gerechnet, dass dies andauern wird. Sie haben deshalb keine großen Mengen eingekauft.“ Das räche sich – sie müssten teuer nachkaufen, könnten die Preise aber nicht immer an den Kunden weitergeben.

Eine Mail mit der Vertragskündigung vom Strom- oder Gasanbieter – die hat  im Dezember zigtausende Kunden überrascht.
Eine Mail mit der Vertragskündigung vom Strom- oder Gasanbieter – die hat im Dezember zigtausende Kunden überrascht. © Shutterstock / Krakenimages.com | Krakenimages.com

Stromvertrag beendet: Was sollten Betroffene jetzt tun?

„Aus unserer Sicht ist dieses Verhalten unrechtmäßig“, sagt Christina Wallraf. Eine außerordentliche Kündigung könne sich nur auf Gründe stützen, die im Risikobereich der Gekündigten lägen. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn Kunden partout ihre Rechnung nicht zahlten. Die Preisentwicklung bei der Energiebeschaffung sei kein hinreichender Grund für eine einseitige Vertragsauflösung vonseiten des Anbieters. Das sieht auch das Bundesministerium für Umwelt und Verbraucherschutz so. Ein Sprecher nennt das Vorgehen „Vertragsbruch“.

Laut Verbraucherzentrale NRW sollten Kunden zunächst den Zählerstand notieren und bestehende Einzugsermächtigungen und Daueraufträge widerrufen beziehungsweise auflösen. „Betroffene sollten auch einen möglichen Schadenersatz prüfen und gegebenenfalls geltend machen“, sagt Wallraf. Die Verbraucherzentrale hat dazu ein Musterschreiben auf ihrer Webseite zur Verfügung gestellt.

Darüber hinaus sollten Betroffene checken, wie viel der Ersatzversorger für seine Leistung verlangt. „Manche Unternehmen haben zuletzt für Neukunden in der Ersatz- oder Grundversorgung die Preise sehr stark erhöht, mitunter auf bis zu 80 Cent pro Kilowattstunde beim Strom und 35 Cent pro Kilowattstunde beim Gas“, berichtet Wallraf. Hier drohten also hohe Rechnungen.

Zum Vergleich: Viele Kunden zahlten bei den gekündigten Verträgen etwa 29 Cent pro Kilowattstunde Strom und 6 Cent pro Kilowattstunde Gas. Bei hohen Preisen in der Ersatzversorgung sollten Betroffene rasch den Stromanbieter wechseln nach einem neuen Gasanbieter suchen.

Was die Suche nach einem Anbieter erschwert

Betroffene von außerordentlichen Vertragskündigungen berichten, dass sich die Suche nach einem neuen Anbieter mühsam gestalten kann. „Es ist aktuell sehr schwierig, einen guten Vertrag zu bekommen“, weiß auch Christina Wallraf von der Verbraucherzentrale NRW.

Einige Anbieter nähmen keine Neukunden mehr auf, andere hielten sie über extreme Preise auf Abstand. In manchen Städten könne der Grundversorger aktuell der günstigste Anbieter sein, sagt Wallraf. Diese Situation habe es seit Liberalisierung der Energiemärkte 1998 nicht gegeben.

Was müssen Betroffene zur Ersatzversorgung wissen?

Für die gelten die Bedingungen der sogenannten Grundversorgungsverordnung für Strom und Gas. Das bedeutet: Kunden können eine durch den Grundversorger vorgenommene Belieferung in der Ersatzversorgung fristlos kündigen und somit zügig in einen günstigeren Tarif wechseln.

Wie hoch sind die Ansprüche auf Schadenersatz?

Diese orientieren sich Christina Wallraf zufolge an zwei Dingen: An der Laufzeit der gekündigten Verträge und dem Preis des neuen Lieferanten. Hieraus lasse sich ein Betrag errechnen: Wie viel mehr müssen Kunden bis Ende der Vertragslaufzeit durch den Rauswurf ihres bisherigen Anbieters zahlen? Diesen Betrag sollten Betroffene vom alten Anbieter als Schadenersatz einfordern, rät auch das Verbraucherministerium.