Berlin. Stabiles Selbstwertgefühl ist gesund, übersteigerte Selbstliebe kann jedoch krankhaft sein. Warum Jeder narzisstische Anteile hat.

Selbstverliebt, empathielos und bindungsunfähig: Narzissten haben einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, sagt Psychologin und Autorin („Und das soll Liebe sein?“) Bärbel Wardetzki, 68. Im Interview erklärt sie, warum Narzissmus vor allem ein Schutzmechanismus ist, welche positiven Eigenschaften Narzissten regelrecht in Führungspositionen katapultieren und warum sie glaubt, dass der amerikanische Präsident Donald Trump als Lehrobjekt für Ichbezogenheit dient.

Ist jeder Mensch, der ein eher überhöhtes Selbstbild hat und dazu neigt, auf andere herabzublicken ein Narzisst?

Bärbel Wardetzki: Narzissmus ist etwas, das in jedem Menschen steckt und in unterschiedlich starker Ausprägung vorhanden ist. Wir alle tragen also narzisstische Anteile in uns. Denn wir müssen unser Selbstwertgefühl jeden Tag ins Gleichgewicht bringen. Die, die ein starkes narzisstisches Defizit haben, brauchen, um innerlich stabil zu werden, Bestärkung durch ihre Umwelt. Daraus entwickeln sich natürlich bestimmte Verhaltens-, Denk- und Beziehungsmuster. Es ist daher nicht ganz treffend, von dem Narzissten zu sprechen.

Ab wann gilt eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur als krankhaft?

Wardetzki: Das ist sehr schwer zu sagen, weil die Übergänge fließend sind. Grundsätzlich aber, sobald der Betroffene starken Leidensdruck empfindet, weil er beispielsweise immer wieder daran scheitert, Beziehungen aufrecht zu erhalten. Im Grunde sind Narzissten Menschen, die unglaublich leiden, weil sie nicht gelernt haben, ihren Wert und ihre Identität zu entwickeln. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung allerdings ist eine sehr starke Beeinträchtigung, die nur bei ein bis drei Prozent der Menschen auftritt.

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Zeichnet sich ausgeprägter Narzissmus tatsächlich durch Empathielosigkeit aus?

Wardetzki: Eine starke narzisstische Beeinträchtigung ist immer mit einem geringen Einfühlungsvermögen in das Gegenüber verbunden. Der andere Mensch wird eher funktionalisiert. Er ist weniger als Mensch interessant, sondern als Person, die bestätigen soll. Narzissten suchen nach der Bestätigung durch andere, weil sie selbst wenig Identität besitzen.

Erschwert dieses Muster nicht jede zwischenmenschliche Beziehung?

Wardetzki: Im Umgang mit anderen Menschen sind Narzissten häufig sehr, sehr schwierig: Sie loben wenig, vermitteln nicht das Gefühl, dass ihnen das Gegenüber wirklich etwas bedeutet. Sie versuchen stattdessen, sich selbst zu erhöhen. Sind überzeugt davon, besser als andere zu sein, und fordern die Anerkennung und Bewunderung ein, von der sie glauben, dass sie ihnen zusteht.

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Dennoch sind Narzissten keine grundsätzlich schlechten Menschen.

Wardetzki: Nein. Narzissmus ist ein sehr negativ besetzter Begriff, den viele mit egoistischen Personen verbinden. Solchen, die andere ausbeuten. Dabei ist Narzissmus wichtig für die Seele, weil er das Selbstwertgefühl davor schützt, zusammenzubrechen. Wenn ich ein schwaches Selbstwertgefühl habe und mich größer mache als ich bin, indem ich mir Bewunderung und Anerkennung hole, dann stärke ich mich letztlich. Es handelt sich also um einen Schutzmechanismus. Einen jedoch, der auch mit viel Leid und Beziehungsproblemen verbunden ist. Menschen mit starken narzisstischen Defiziten können oftmals keine gesunden Beziehungen leben

Woran liegt das?

Wardetzki: Beziehungen mit einem Narzissten beginnen häufig wie im Traum. Dann ist von der tollsten Frau oder dem tollsten Mann die Rede, die oder den man je getroffen hat. Wenn die Beziehung aber eine gewisse Zeit andauert, kann das kippen. Zum Beispiel, weil die Partnerin oder der Partner bei vermeintlichen Kleinigkeiten die Fassung verliert und ausrastet. Narzissten können häufig nicht sagen, dass sie etwas nicht gut finden, sondern beschimpfen das Gegenüber stattdessen, machen es nieder und entwerten es. Dieses Muster kann sich im Laufe einer Beziehung verstärken. Sodass die Partnerin oder der Partner irgendwann das Gefühl hat, idiotisch, dumm und hässlich zu sein. Die Verletzung ist eine seelische.

Warum entwickeln manche Menschen eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und andere nicht?

Wardetzki: Das wird in der Wissenschaft viel diskutiert. Einige gehen davon aus, dass 70 Prozent der narzisstischen Thematik angeboren ist. Ausschlaggebend ist aber auch die Art und Weise, wie ein Kind aufwächst. Inwieweit es sich an seine Mutter, seinen Vater binden kann. Oder andere Familienmitglieder selbst mit narzisstischen Strukturen zu kämpfen haben.

Auch Verwöhnung ist ein Problem. Denn überbewertete Kinder entwickeln natürlich viel eher ein so genanntes Größenselbst. Sie erfahren keine Grenzen, keine Korrekturen in ihrem Verhalten. Sie lernen stattdessen, sich hinzustellen und zu sagen: Die Welt gehört mir und ich diktiere, was in dieser Familie passiert. Zu guter Letzt spielt auch die Gesellschaft, in der wir leben, eine Rolle.

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Ist unsere Gesellschaft narzisstischer als früher?

Wardetzki: Ja. In unserer Gesellschaft gilt: Die, die erfolgreich sind, sind eben auch die, die nicht zuerst an andere denken, sondern an sich. Außerdem haben wir mehr narzisstische „Spielfelder“ als je zuvor. Soziale Medien beispielsweise sind regelrechte narzisstische Bühnen.

Sie selbst haben den so genannten weiblichen Narzissmus erstmals vor rund 30 Jahren beschrieben. Wie genau unterschiedet sich weiblicher von männlichem Narzissmus?

Wardetzki: Ich habe es deshalb weiblichen Narzissmus genannt, weil Narzissmus bis dahin immer nur mit Männern verbunden wurde. Als ich mit Bulimikerinnen gearbeitet habe, habe ich aber gemerkt, dass diese ebenfalls narzisstische Strukturen haben. Sie machen sich kleiner als andere.

Sind eher verwundbar, zurückhaltend und suchen sich häufig einen grandiosen narzisstischen Partner, um sich selbst zu erhöhen. Und das ist etwas, das wir sehr häufig bei Frauen finden. Aber auch bei Männern. Bedeutet: Männlich und weiblich heißt nicht, dass das eine Konzept nur für Frauen und das andere nur für Männer gilt. Es gibt viele Frauen mit einer grandiosen narzisstischen Struktur, die man auch männlichen Narzissmus nennt. Und andersherum.

Obwohl Narzissten andere abwerten, schaffen sie es dennoch, zu verführen. Wie?

Wardetzki: Sie spüren, was ihr Gegenüber braucht. Narzissten haben diese Methoden drauf, weil sie selbst als Kinder verführt wurden. Sie wissen haargenau, wie sie jemanden dazu bringen, sich in sie zu verlieben. Da sind sie unglaublich kreativ.

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Wie gut können Narzissten ihr Verhalten reflektieren?

Wardetzki: Das kommt ganz darauf an, wie stark die narzisstische Beeinträchtigung ist. Für Narzissten ist es schwer, sich mit dem auseinander zu setzen, was nicht ihrem Ideal entspricht. Sie wollen ja gut dastehen. Von daher glaube ich, dass es eher selten ist, dass sie ihr Verhalten wirklich reflektieren. Die beste Lehrobjekt haben wir ja gerade in Amerika.

Sie halten Trump für einen Narzissten?

Wardetzki: Man kann beim amerikanischen Präsidenten zumindest sehr viele narzisstische Verhaltens- und Reaktionsweisen erkennen. Sobald ihn jemand kritisiert, ist der weg vom Fenster, verliert seinen Job, ist der letzte Idiot, wird beschimpft, wird entwertet. Trump ist meiner Meinung nach natürlich mehr als ein Narzisst. Aber er befindet sich schon in dieser narzisstischen Ecke – Ich ertrage es nicht, dass mich jemand kritisiert, also muss ich den zerstören. Das ist sozusagen der Gipfel der narzisstischen Abwehr.

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Warum werden Führungspositionen dennoch häufig mit Menschen mit narzisstischen Strukturen besetzt?

Wardetzki: Weil Narzissmus auch wahnsinnig viele positive Eigenschaften besitzt. Narzissten sind häufig kreative, kluge Menschen. Die haben eine hohe Kompetenz, vor allem sprachlich, gehen voran, haben Mut. Die machen Präsident, obwohl sie es nicht können. Solche Eigenschaften katapultieren Menschen natürlich in höhere Positionen. Jemand der selbst unsicher ist und depressiv in der Ecke sitzt, den wird man nicht zum CEO wählen. Sondern jemanden, der sagt, dass er weiß, wo es langgeht.