Berlin. Außenminister Gabriel spricht über die Erwartung der US-Regierung, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen – und Trumps Twitter-Politik.

Deutschland sucht Orientierung in einer neuen Welt, in der das transatlantische Bündnis gefährdet scheint. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) setzt auf ein starkes Europa, das sich auch an Asien orientiert.

Aus der neuen amerikanischen Regierung kommen sehr unterschiedliche Töne. Verlassen Sie sich auf Donald Trump – oder eher auf den Vizepräsidenten Pence?

Sigmar Gabriel: Ich begrüße es sehr, dass US-Vizepräsident Pence in München und in Brüssel zum transatlantischen Bündnis und zu Europa beruhigende, ja versöhnliche Töne angeschlagen hat. Das spiegelt sich auch in den guten Gesprächen, die wir mit ihm und Außenminister Tillerson geführt haben. Verlassen sollten wir Europäer uns aber in erster Linie mal auf uns selbst. Egal ob China, Russland oder die USA: Wir werden nur ernst genommen, wenn wir zusammenhalten. Europa muss stärker werden. In der gemeinsamen Außenpolitik und – in der Folge, und nicht etwa vorwegeilend – in der gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Und am allermeisten müssen wir für mehr Wachstum, Arbeit und Beschäftigung in Europa tun.

Sie nutzen selbst gern den Kurznachrichtendienst Twitter. Was leiten Sie aus der Kommunikation von Donald Trump ab?

Gabriel: Gut gemacht, kann Twittern Politik vermitteln und Botschaften an Menschen senden, die wir sonst nur noch schwer erreichen. Twittern kann gerne auch anständig gewürzt und angespitzt sein, aber Twittern kann, darf und wird Politik nicht ersetzen. Wir sollten jetzt mal nicht alles, was aus Washington kommt, auf die Goldwaage legen. Wir halten uns an das, was wir von der neuen Administration im vertraulichen und persönlichen Gespräch hören. Aber niemand sollte darauf setzen, dass es schon alles so bequem bleibt, wie es für uns in Europa vielleicht einmal war.

Was ist das schlimmste Szenario, das Sie mit Trump verbinden?

Gabriel: „Hoping for the best, preparing for the worst“: Wir müssen die Negativ-Szenarien nicht ständig an die Wand malen, aber natürlich müssen wir sie durchdenken. Das ist aber kein Grund, in Schockstarre zu verfallen oder uns gar von der Idee des Westens zu verabschieden, im Gegenteil: Die klassischen westlichen Ideale – Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung, das Einstehen füreinander, Presse- und Meinungsfreiheit – haben nichts von ihrer Bedeutung und Aktualität verloren. Sie sind keine Gefälligkeiten, sondern das Fundament der transatlantischen Beziehungen und einer Partnerschaft auf Augenhöhe.

Die Karriere von SPD-Chef Sigmar Gabriel

Sigmar Gabriel bei seinem Sprung in die Spitzenpolitik: Am 15. Dezember 1999 wurde der gebürtige Goslarer als Ministerpräsident Niedersachsens vereidigt. Schon 1977 war er als 18-Jähriger in die SPD eingetreten. Nach einigen Jahren in der Kommunalpolitik zog Gabriel 1990 in den Landtag ein.
Sigmar Gabriel bei seinem Sprung in die Spitzenpolitik: Am 15. Dezember 1999 wurde der gebürtige Goslarer als Ministerpräsident Niedersachsens vereidigt. Schon 1977 war er als 18-Jähriger in die SPD eingetreten. Nach einigen Jahren in der Kommunalpolitik zog Gabriel 1990 in den Landtag ein. © REUTERS | REUTERS / Peter Mueller
Gratulation und Unterstützung gab es besonders vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Gratulation und Unterstützung gab es besonders vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. © REUTERS | REUTERS / Christian Charisius
Gabriel war damals der dritte Ministerpräsident in einer Legislaturperiode. Zuvor hatten Gerhard Schröder und Gerhard Glogowski das Amt niederlegen müssen. Schröder wegen seines Wechsels ins Kanzleramt, Glogowski wegen des Vorwurfs, er habe sich durch seine Stellung materielle Vorteile verschafft.
Gabriel war damals der dritte Ministerpräsident in einer Legislaturperiode. Zuvor hatten Gerhard Schröder und Gerhard Glogowski das Amt niederlegen müssen. Schröder wegen seines Wechsels ins Kanzleramt, Glogowski wegen des Vorwurfs, er habe sich durch seine Stellung materielle Vorteile verschafft. © imago stock&people | imago
„Klar für Sigmar“ sollte Niedersachsen auch 2003 sein, zumindest nach Vorstellung der SPD. Allerdings setzte es bei der Landtagswahl in diesem Jahr eine schallende Ohrfeige: minus 14,5 Prozent, während die CDU mit Spitzenkandidat Christian Wulff über zwölf Prozent zulegte und die Wahl gewann.
„Klar für Sigmar“ sollte Niedersachsen auch 2003 sein, zumindest nach Vorstellung der SPD. Allerdings setzte es bei der Landtagswahl in diesem Jahr eine schallende Ohrfeige: minus 14,5 Prozent, während die CDU mit Spitzenkandidat Christian Wulff über zwölf Prozent zulegte und die Wahl gewann. © imago stock&people | imago
Von 2003 bis 2005 war Gabriel stellvertretender der SPD in Niedersachsen und Chef des SPD-Bezirks Braunschweig. Und er hatte noch genug Zeit, um sich als Partei-Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs einspannen zu lassen. Spitzname: Siggi Pop.
Von 2003 bis 2005 war Gabriel stellvertretender der SPD in Niedersachsen und Chef des SPD-Bezirks Braunschweig. Und er hatte noch genug Zeit, um sich als Partei-Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs einspannen zu lassen. Spitzname: Siggi Pop. © imago stock&people | imago
2005 stand für Gabriel dann der Umzug nach Berlin an. Er war erstmals zur Bundestagswahl angetreten und gewann das Direktmandat seines Wahlkreises mit 52,3 Prozent der Erststimmen. Auch bei den Wahlen 2009 und 2013 holte er das Mandat. Angela Merkel berief ihn zum Chef des Umweltministeriums, Bundestagspräsident Norbert Lammert (rechts) vereidigte ihn am 22. November.
2005 stand für Gabriel dann der Umzug nach Berlin an. Er war erstmals zur Bundestagswahl angetreten und gewann das Direktmandat seines Wahlkreises mit 52,3 Prozent der Erststimmen. Auch bei den Wahlen 2009 und 2013 holte er das Mandat. Angela Merkel berief ihn zum Chef des Umweltministeriums, Bundestagspräsident Norbert Lammert (rechts) vereidigte ihn am 22. November. © imago stock&people | imago
In seiner Zeit als Umweltminister nahm Gabriel nicht nur Hybrid-Autos unter die Lupe, wie hier im Juni 2008 mit dem damaligen VW-Boss Martin Winterkorn – er setzte sich auch auf anderen Wegen für die Energiewende ein und forcierte den Atomausstieg.
In seiner Zeit als Umweltminister nahm Gabriel nicht nur Hybrid-Autos unter die Lupe, wie hier im Juni 2008 mit dem damaligen VW-Boss Martin Winterkorn – er setzte sich auch auf anderen Wegen für die Energiewende ein und forcierte den Atomausstieg. © imago stock&people | imago stock&people
Am 13. November 2009 wurde Gabriel auf dem Bundesparteitag in Dresden zum SPD-Vorsitzenden gewählt. 94,2 Prozent der Delegierten stimmten damals für ihn.
Am 13. November 2009 wurde Gabriel auf dem Bundesparteitag in Dresden zum SPD-Vorsitzenden gewählt. 94,2 Prozent der Delegierten stimmten damals für ihn. © imago stock&people | imago stock&people
Sigmar Gabriel beim Bierchen mit NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft beim Politischen Aschermittwoch der SPD im Jahr 2010. In den folgenden Jahren wurde Gabriels Rückhalt in der Partei langsam, aber sicher immer kleiner. Beim Bundesparteitag 2011 vereinte er 91,6 Prozent der Stimmen auf sich, 2013 waren es nur noch 83,6 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2013 ging Peer Steinbrück als Spitzenkandidat der SPD ins Rennen.
Sigmar Gabriel beim Bierchen mit NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft beim Politischen Aschermittwoch der SPD im Jahr 2010. In den folgenden Jahren wurde Gabriels Rückhalt in der Partei langsam, aber sicher immer kleiner. Beim Bundesparteitag 2011 vereinte er 91,6 Prozent der Stimmen auf sich, 2013 waren es nur noch 83,6 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2013 ging Peer Steinbrück als Spitzenkandidat der SPD ins Rennen. © imago stock&people | imago stock&people
Nach dem Desaster für die FDP bei der Bundestagswahl 2013 wurde die SPD wieder Koalitionspartner der Union. Gabriel ist seitdem Vize-Kanzler und Wirtschaftsminister.
Nach dem Desaster für die FDP bei der Bundestagswahl 2013 wurde die SPD wieder Koalitionspartner der Union. Gabriel ist seitdem Vize-Kanzler und Wirtschaftsminister. © imago/ZUMA Press | imago stock&people
2015 äußerte Gabriel, dass er bei der Bundestagswahl „natürlich“ Kanzlerkandidat werden wolle. Allerdings steht seine Kandidatur auf wackeligen Beinen. Im Dezember 2015 beim Bundesparteitag der SPD wurde er mit nur noch 74,3 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Er sagte dazu: „In der Zeitung wird stehen: Gabriel abgestraft – und so ist das ja auch.“
2015 äußerte Gabriel, dass er bei der Bundestagswahl „natürlich“ Kanzlerkandidat werden wolle. Allerdings steht seine Kandidatur auf wackeligen Beinen. Im Dezember 2015 beim Bundesparteitag der SPD wurde er mit nur noch 74,3 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Er sagte dazu: „In der Zeitung wird stehen: Gabriel abgestraft – und so ist das ja auch.“ © imago/CommonLens | imago stock&people
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Sehen Sie Alternativen zum transatlantischen Verhältnis?

Gabriel: Vorausschauendes politisches Handeln gebietet es, in Räume auszugreifen, die für uns und unsere Zukunft entscheidend sind. Nicht umsonst sprechen viele von einem pazifischen Jahrhundert. Meine Gespräche in Bonn bei den G20 zeigen, dass das Interesse unserer Partner in Asien und Lateinamerika an mehr Zusammenarbeit in Europa viel größer ist als ihre Unsicherheit über den zukünftigen Kurs der USA. Hier können wir nur gewinnen, auf allen Seiten. Eine gute und vertrauensvolle transatlantische Zusammenarbeit ist und bleibt der Schlüssel für unsere gemeinsame Sicherheit und eine liberale, offene Weltordnung. Das kann man nicht ersetzen, schon gar nicht von heute auf morgen. Dass Europa mehr für seine Sicherheit tun muss, ist ja längst eine Binse, und das weit vor Donald Trump. Das tun wir, mit Augenmaß, aber nicht in blindem Gehorsam.

Worauf wollen Sie hinaus?

Gabriel: Wir haben 2014 in der Nato vereinbart, „uns innerhalb eines Jahrzehnts der Zwei-Prozent-Richtlinie anzunähern“. Das gilt und dazu stehen wir. Sicherheit ist aber ungleich mehr als das Zählen militärischer Hardware; es ist auch und vor allem Konfliktprävention, Stabilisierung schwacher Staaten, Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe. Hilfsorganisationen berichten, dass Millionen Menschen am Horn von Afrika, in Somalia, Äthiopien, im Südsudan und anderswo akut von Hunger und Tod bedroht sind. 1,4 Millionen Kinder sind derzeit akut vom Hungertod bedroht! Die Bilder sind schrecklich. Im Irak müssen Essensrationen für Menschen auf der Flucht vor dem IS gekürzt werden, wenn die internationale Gemeinschaft nicht neue Mittel bereitstellt. Im Jemen sind inzwischen wegen des blutigen Krieges zwei Drittel der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Was genau bedeutet das für den deutschen Verteidigungsetat?

Gabriel: Wir haben Gott sei Dank unseren Einsatz für humanitäre Hilfe in den letzten Jahren massiv ausgeweitet und sind schon froh, wenn wir auf reguläre Haushaltszahlen jenseits von einer Milliarde Euro schauen können. Jetzt reden manche einer Steigerung des Verteidigungshaushalts von 20 Milliarden Euro und mehr das Wort, wohlgemerkt pro Jahr. Die ersten Forderungen werden laut, die Rüstungsausgaben durch Kürzung der Sozialausgaben in Deutschland zu finanzieren. Mit der SPD wird es das nicht geben. Wenn wir tatsächlich kein Problem mit einer solchen Erhöhung des Verteidigungsetats haben, wie der CDU-Finanzminister sagt, dann sollte auch Geld da sein für die Millionen Flüchtlinge und Vertriebene und ihre Kinder, für Essen und Trinken, und für Lebensperspektiven in ihrer Heimat. Das wäre Sicherheitspolitik, und zwar im besten Sinne.

Was soll Europa insgesamt leisten?

Gabriel: Wir müssen uns selber und den Bürgern Europas beweisen, dass wir gestaltungswillig und handlungsfähig sind. Ich sehe fünf Bereiche für ein stärkeres, besseres Europa: gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Schutz der Außengrenzen Europas, Zusammenarbeit für mehr innere Sicherheit, entschlossene Wiederbelebung des europäischen Wohlstandsversprechens und Reformen im europäischen Binnenmarkt. Das ist eine kraftvolle Agenda für Europa, nach innen und nach außen. Nur als starker und geeinter Kontinent behalten wir Gewicht und Stimme in der Welt.

Von Einigkeit ist in der EU wenig zu spüren – nicht einmal bei der Stabilisierung der gemeinsamen Währung …

Gabriel: Es ist höchste Zeit, dass wir die Debatten wieder auf eine sachliche Ebene zurückholen. Wenn Griechenland eines nicht ist, dann das geeignete Objekt für orthodoxe Ideologien. Deshalb ist es gut, dass die technischen Verhandlungen über das Reformprogramm in Athen jetzt wieder aufgenommen werden. Athen sollte sich an einmal getroffene Vereinbarungen halten und wir mit vereinten Kräften alles tun, damit das Land und seine leidgeprüften Menschen endlich wieder wirtschaftlich und sozial auf die Beine kommen – in der Euro-Zone. Ich finde, es gehört sich für ein so großes, starkes und stabiles Land wie Deutschland, alles zu tun, um Europa zusammenzuhalten. Das ist weit mehr als ein Akt der Solidarität, es ist in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse.

Ist es der richtige Weg, Sozialreformen zurückzudrehen, wie das der neue SPD-Vorsitzende Martin Schulz plant?

Gabriel: Martin Schulz hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir heute in einer Zeit leben, in der wir einen Fachkräftemangel haben. Die damaligen Sozialreformen fanden statt, als wir uns der Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen näherten. Dass es Sinn macht, darüber nachzudenken, welche der damaligen Reformen heute dazu führen, dass Menschen zu früh von Qualifizierung, Fortbildung und dem Arbeitsmarkt ferngehalten werden, scheint mir mehr als berechtigt zu sein.