„Die Wahlumfrage ist eine Momentaufnahme. Viele Niedersachsen sind unentschlossen, die kleinen Parteien liegen gefährlich nahe an der Fünf-Prozent-Marke.“

„Wahlen allein machen noch keine Demokratie.“ (Barack Obama)

Falls die Wahlforscher Recht behalten, wird der niedersächsische Landtag so bunt wie nie. SPD, CDU, FDP, Grüne, Linke, AfD – alle wären drin. Die Regierungsbildung könnte schwerfallen. Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün können nach der im Auftrag des NDR durchgeführten Erhebung eine klare Mehrheit erwarten. Und ob eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen auch in Niedersachsen möglich wäre, steht in den Sternen – die im Bundesvergleich eher fundamentalistischen Grünen wären den Konservativen wohl eher Notnagel als Wunschpartner. Auch an eine rot-rot-grüne Mehrheit lässt sich kaum denken. Die niedersächsische SPD steht mit beiden Beinen in der bürgerlichen Realpolitik und schlägt sich auch deshalb besser als die Bundespartei.

Eindeutig ist dagegen, wen die Bürger am liebsten an der Kabinettsspitze sähen: Ministerpräsident Weil hängte gegen den Trend seiner Partei den CDU-Vorsitzenden und Spitzenkandidaten Bernd Althusmann ab. Es mag mit Weils stetigem Bemühen um Bürgernähe in den Regionen Niedersachsens zu tun haben – und vielleicht mit der Aufregung um seine Regierungserklärung. CDU-Spitzenmann Althusmann hatte die Abstimmung mit Volkswagen munter skandalisiert, obwohl er wissen musste, dass sie die – auch für CDU-Ministerpäsidenten –unvermeidliche Folge des Aufsichtsratsmandats in einer Kapitalgesellschaft war.

Viele Bürger sehen das VW-Mandat inzwischen sehr kritisch. Die Frage ist, was im Interesse des Landes Niedersachsen und seiner Bürger schwerer wiegt: der unübersehbare Verlust an Bewegungsfreiheit des Ministerpräsidenten und des Wirtschaftsministers oder die Chance, Niedersachsens wichtigstes Unternehmen gemeinwohlorientiert mitzusteuern.

Die Wahlumfrage ist nicht mehr als eine Momentaufnahme. Noch immer sind viele Wählerinnen und Wähler unentschlossen, die kleinen Parteien sind der Fünf-Prozent-Marke gefährlich nahe – und natürlich wird das Ergebnis der Bundestagswahl kaum drei Wochen zuvor noch einiges Nachdenken auslösen. Es wäre gerade in Niedersachsen nicht neu, dass sich eine Wahl spät entscheidet.

Ein schwer zu kalkulierender Faktor ist die AfD. Sie bündelt den Wunsch nicht weniger Bürger nach einer traditionellen Linie in der Asyl- oder auch Familienpolitik. Aber die AfD ist sich selbst im Weg. Statt sich von den widerlichen Ausfällen ihrer Parteifreunde Gauland und Höcke zu distanzieren, stürmt Bundesspitzenkandidatin Alice Weidel aus Marietta Slomkas Sendung. Inszeniert oder nicht – es war keine überzeugende Antwort an potenzielle AfD-Wähler, die nichts mit der Sportpalast-Demagogie eines Höcke und den Entsorgungsphantasien Gaulands am Hut haben.

Scharfe Abgrenzung im Sinne klarer politischer Alternativen ist in diesem Sommer insgesamt quälend selten. In einem seltsam verhaltenen Doppelwahlkampf fiel die Kuschelrunde Angela Merkels und Martin Schulz’ kaum noch negativ auf. Dieses „Duell“ wirkte auf viele Zuschauer wie ein Symbol der Austauschbarkeit der beiden großen Parteien. Immerhin durften beide Kandidaten ihre Sätze beenden, was ja im Infotainment des deutschen Fernsehens nicht selbstverständlich ist.

Dennoch spricht einiges für die These, dass die Bürger in Bund und Land auf Nummer sicher gehen könnten. Atomkriegsgefahr in Korea, Terror-Bedrohung aus Nahost, Entsolidarisierung innerhalb der EU, der Brexit und dieser US-Präsident, der ungefähr so berechenbar ist wie der Flug des Hartgummi-Flummis eines Kindes – es ist so viel Chaos-Potenzial um uns herum, dass sich am Ende viele gegen politische Experimente entscheiden könnten.

Viel wird von der Frage abhängen, wie viele Bürger zur Wahl gehen. Die großen Parteien in Niedersachsen geben sich zuversichtlich. Die Sozialdemokraten sehen sich durch die Ungerechtigkeit des Wechsels der Grünen-Abgeordneten Twesten zur Union motiviert, die CDU spürt die Chance zum Machtwechsel. Aber auch die kleinen Parteien bekunden, sie verspürten Rückenwind. Eine niedrige Wahlbeteiligung käme ihnen entgegen.

Ob ein Bürger zur Wahl geht oder nicht, ist seine sehr persönliche Entscheidung. Aber wer nach der Wahl kein dummes Gesicht machen will, sollte wohl das Privileg annehmen, das uns die Demokratie schenkt. Die IG Metall hat einen wunderbaren Wahlappell ins Netz gestellt – sehr witzig und dennoch mit sehr ernstzunehmender Botschaft. So geht Demokratiewerbung im Youtube-Zeitalter!

Gute Werbung machte diese Woche auch die Unternehmerschaft. Der Unternehmerpreis der Region 38 hatte mit Andreas Sander und Ehme de Riese tolle Finalisten und mit Stephan Röthele einen würdigen Sieger. Man konnte bei der Veranstaltung im Medienhaus spüren, wie wichtig kluge, mutige und sozial verantwortliche Unternehmerpersönlichkeiten sind.

Und der vielgescholtene VW-Vorstandchef Matthias Müller verstand es in Wolfsburg im Gespräch mit 300 Mitarbeitern, das Selbstbewusstsein seiner Mannschaft zu stärken und zugleich klare Worte zu den Fehlern der Vergangenheit zu finden. Die Fernsehkameras scheinen ihn nicht zu lieben. Aber der Beifall derer, die Müller aus der Nähe erlebten, war lang und herzlich. Es mag dem Unternehmen, aber auch dem Spitzenmanager gut getan haben.