Armin Maus, Chefredakteur unserer Zeitung, sprach am Volkstrauertag in der Dornse über Krieg und die Rolle des Journalismus. Lesen Sie hier die komplette Rede.

Sehr geehrter Herr Herrmann, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Als Angehörigem einer Nachkriegsgeneration ist es mir eine besondere Ehre, hier und heute sprechen zu dürfen.

„Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge."

Gerade an diesem Tag, gerade in diesem Kreis wird die Weisheit dieses Satzes erkannt. Ich kenne ihn aus dem Munde Willy Brandts, gesprochen in einer Zeit, in der die Welt zwei verheerende Kriege überstanden hatte, die gerade in Braunschweig unendliches Leid über die Menschen gebracht haben.

Überwunden waren diese Kriege noch lange nicht. Frühere Verbündete wurden zu Todfeinden. Waffenstarrend standen sich zwei Machtblöcke gegenüber. Der eine demokratisch, der andere totalitär, beide hochgerüstet bis zur Gefahr der Selbstvernichtung.

In den achtziger Jahren lebten viele Menschen in Angst davor, der Weltuntergang könne durch einen dummen Zufall beginnen. Kurz- und Mittelstreckenraketen mit atomarer Bewaffnung ließen Vorwarnzeiten von nur noch wenigen Minuten. Viele Menschen fragten, ob die eigenen Waffen nicht die größte Bedrohung seien.

Willy Brandt vor allem ist es zu verdanken, dass wir heute in einem ungleich sichereren Europa leben dürfen. Der Wandel durch Annäherung durch die Ostpolitik hat die Festungswälle des Hasses untergraben.

Und in einem - heute leider selten gewordenen - Beispiel des Konsenses aller Demokraten verstanden sich auch alle folgenden Regierungen als Baumeister der Verständigung. Unterschiedlich waren nur die Akzente.

Die Richtigkeit der Ostpolitik dürfte heute in unserem Land allgemein akzeptiert sein. In den Jahren des kalten Krieges war das anders. Die Debatte über die unterschiedlichen Standpunkte wurde in einer Härte ausgetragen, die man sich heute kaum noch vorstellen kann.

Unsere Debattenkultur ist unter dem Einfluss der Talkshows ja sehr weich geworden. Man kann auch sagen, sie sei zum Austausch von Sprechblasen verkommen. Vielleicht ist das ein Zeichen unseres Wohlergehens.

In den siebziger und achtziger Jahren aber konnten Sie erleben, dass Friedensbewegte als fünfte Kolonne Moskaus beschimpft wurden. Die Repliken hatten ähnliches Kaliber – Anhänger der Abschreckungspolitik fanden sich als Kriegstreiber apostrophiert.

In Deutschland und Europa blieb es weitgehend bei der verbalen Eskalation. Menschen in anderen Teilen der Welt waren weniger glücklich. Stellvertreterkriege verwüsteten Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.

Meine Damen und Herren,

der Verlust der Differenzierung, die Malerei in schwarz und weiß, die Aufteilung der Menschen in Gut und Böse – diese schreckliche Vereinfachung der Welt ist stets ein Wegbereiter für Gewalt und Tod. Aischylos, der Schöpfer der griechischen Tragödie, prägte den Satz: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“

Es ist fast genau zehn Jahre her. Im Februar 2003 präsentierte US-Außenminister Colin Powell dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Beweise dafür, dass der irakische Diktator Saddam Hussein im Besitz von Massenvernichtungswaffen sei. Die Quelle der amerikanischen Geheimdienste hatte der deutsche Bundesnachrichtendienst erschlossen. Ein Überläufer mit dem Codenamen Curveball hatte die Idee fahrbarer Waffenlabore in die Welt gesetzt.

Die Labore und die Beweise gab es in Wirklichkeit nie.

Curveball war nichts anderes als ein cleverer Geschichtenerzähler, der sich mit seinen Erfindungen das Wohlwollen der Behörden zu sichern suchte.

Schon zwei Jahre später sprach Powell öffentlich von einem Schandfleck seiner Karriere. Der Krieg war da längst geführt. Mehr als 100000 Menschen waren gestorben. Die meisten von ihnen waren Zivilisten.

Der frühere britische Premierminister Tony Blair, der auf der Basis dieser falschen Beweise den Irakkrieg gerechtfertigt hatte, war übrigens weniger schuldbewusst als Colin Powell. Wir haben wohl alle noch sein Wort von den „weapons of mass destruction“ im Ohr. Wir dürfen bezweifeln, dass er es nicht besser wusste.

Der Irakkrieg brauchte eine Rechtfertigung. Der Irak war im Wege: Ein Regime, das so skrupellos wie feindselig war. Ein Land, das allein wegen seines Ölreichtums eine entscheidende Rolle im Nahen Osten spielte.

Die angeblichen Massenvernichtungsmittel waren genau dies: Sie boten den Vorwand für einen Krieg, der aus ganz anderen Gründen geführt werden sollte.

Ich will deutlich sagen: Saddam Hussein war ein Mörder, ein Menschenschinder. Es liegt mir fern, ihn zu verniedlichen. Aber er war nicht im Besitz von Massenvernichtungswaffen.

Die Vorgeschichte des Irakkrieges ist nicht sehr ungewöhnlich. Es gehört offenbar zum Wesen des Krieges, dass er im Gewand der Notwehr präsentiert wird. Selbst Hitler, der skrupelloseste Kriegstreiber der jüngeren Geschichte, brüllte am Tag des Überfalls auf Polen vor dem Reichstag: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“

Die Lüge gehört zum Krieg wie das Sterben. Und doch ist der Irak-Krieg insofern überraschend, als er uns Demokraten eine bittere Lehre bescherte. Es macht offenbar nicht unbedingt einen Unterschied, ob der Krieg im Namen einer Demokratie oder einer Diktatur beginnt.

Die Desinformation folgte denselben Regeln. Die Demokraten in Washington und London gingen mit der Wahrheit nicht weniger brutal um als alle Diktatoren.

Dies, meine Damen und Herren, ist für Menschen meines Berufsstandes besonders bitter. Denn es heißt nichts anderes, als dass wir Journalisten unsere Arbeit nicht gut genug gemacht haben.

Was ist denn der Unterschied zwischen totalitären Regimes und modernen Demokratien? Ich will zwei Punkte herausgreifen.

Es ist zum einen die Kontrolle der Macht in einem System der Checks and Balances durch die Teilung der Gewalten. Wir erleben gerade eben in der Euro-Krise, wie wichtig es ist, dass eine Regierung nicht allein entscheidet. Parlamente und Gerichte müssen ihre Rolle spielen.

Und ein wichtiger Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist die Freiheit der Information und der Meinung.

Sie ist kein Privileg der Journalisten. Jeder hat das Recht, sich ungehindert zu informieren und seine Meinung frei zu äußern.

Und doch spielen meine Berufskollegen in den Demokratien eine wichtige Rolle. Es ist unsere Aufgabe, Behauptungen von Fakten zu scheiden. Wir haben festzustellen, ob Gemeinwohl oder Selbstnutz die wahren Triebkräfte des Handelns sind.

Wir tragen die Informationen zusammen, prüfen, sortieren und gewichten sie, die es den Menschen in einer so komplexen Welt wie der unseren erleichtern, sich zu orientieren. Wir sind die Helfer des mündigen Bürgers.

Glauben Sie mir: Die Heilsbringer von Mark Zuckerberg, dem Facebook-Erfinder, bis zu Julian Assange, dem Wikileaks-Vordenker, sie haben unserer Kommunikation wichtige Facetten beigefügt.

Aber sie ersetzen nicht die sorgfältige und im besten Wortsinne gewissenhafte Arbeit gut ausgebildeter, ordentlich bezahlter, unabhängiger und kritischer Journalisten.

Wer im Zeichen des Informationswusts im Internet glaubt, es ginge heute ohne Journalisten, der möge sich dem Experiment unterziehen, das ich einmal hinter mich gebracht habe.

Nehmen Sie die Themen einer Zeitung oder einer Nachrichtensendung, setzen Sie sich an Ihren Computer, Ihr iPad, Ihren Tablet-PC oder Ihr Smartphone, und versuchen Sie, die Informationen zusammenzubekommen, die sie in dieser Zeitung oder dieser Sendung gefunden hätten. Auf die Internetseiten der Zeitungen, Radio- und Fernsehsender müssten Sie verzichten. Genauso auf die Angebote, die die Arbeit der Redaktionen plündern und als die eigenen ausgeben.

Es würde Ihnen so gehen wie mir: Nach fünf Stunden würden Sie entnervt aufgeben. Ganz sicher hätten Sie nicht mehr die Kraft, die Informationen zu reflektieren.

Alles gut und schön, werden Sie sagen. Aber waren wir Journalisten vor dem Irakkrieg unserer Aufgabe gerecht geworden? 2003 druckten alle Zeitungen die Berichte über die angeblichen Beweise. Alle Sender sendeten sie. Zwar gab es Zweifel an Powells Darstellung. Sie wurden auch artikuliert.

Aber niemand widerlegte die angeblichen Fakten, niemand stand auf, mit Beweisen in der Hand, und sagte das Wort: „Lüge“.

Niemand mochte sich wohl vorstellen, eine demokratisch gewählte Regierung könne die Wahrheit derart dreist fälschen. Und dennoch war genau dies geschehen.

Es ist ein schwacher Trost, dass auch die Kräfte der politischen Opposition und die der Aufrechten in Militär und Staatsapparat nicht reichten, die grobe Fälschung zu entlarven.

Der Irakkrieg, meine Damen und Herren, ist ein Stachel im Fleisch aller Demokraten und ganz sicher ein Stachel im Fleisch der Journalisten. Er lehrt uns, dass wir die Pflichten kompromisslos ernst zu nehmen haben. Pflichten, die uns unser Dienst an der Gesellschaft auferlegt.

Wir müssen noch gründlicher recherchieren, noch misstrauischer fragen, noch nachdrücklicher bereit sein, dass Unmögliche für möglich zu halten. Die Wahrheit ist, um es mit Arthur Conan Doyle zu sagen, was übrig bleibt, nachdem man das Unmögliche ausgeschlossen hat.

Als Journalisten an einer Regionalzeitung haben wir den großen Vorteil, dass wir unsere Gesprächspartner viel besser kennen, als ein politischer Journalist in einer beliebigen Hauptstadt. Es gibt mehr Grund zum Vertrauen. Die Nähe ist ein wirkungsvolles Korrektiv: In einer kleinen Welt haben die Lügen kürzere Beine.

Aber dafür stoßen wir auf Erwartungen, die wir nicht erfüllen dürfen, wollen wir unserer Rolle gerecht werden. Einer, mit dem man sich gut versteht, ist nicht anders zu behandeln als ein Fremder. Verdienste, sozialer Stand, wirtschaftliche Kraft, all das darf keine Rolle spielen, wenn am Ende wahrhaftige Berichterstattung stehen soll.

Es geht hier Gott sei Dank nie um Krieg und Frieden. Aber die Verantwortung ist dieselbe.

Meine Damen und Herren, der Volkstrauertag ist für viele von uns ein wichtiger Tag. Er lässt uns innehalten. Wir gedenken der Opfer des Krieges.

Mir selbst ist heute früh meine Urgroßmutter wieder sehr nah. Eine Frau, die ich nie kennenlernen durfte. Sie starb auf der Flucht aus Ostpreußen, weit vor der Zeit, die Gott ihr schenken wollte.

Ich weiß nicht, was sie zu unserer heutigen Welt sagen würde. Wahrscheinlich wäre sie ihr zu laut, zu schnell, zu selbstgefällig. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich mahnen würde: Jungche, pass auf, dass so etwas Schreckliches wie dieser Krieg nie wieder über uns kommt.

Ich denke, jeder von uns kann etwas dafür tun. Zwanzig Jahre nach den Brandanschlägen von Mölln wissen wir, dass auch der innere Frieden verteidigt werden muss.

Für Journalisten folgt daraus, dass unsereiner von Berufs wegen unbequem sein muss. Diese Unbequemlichkeit ist eine der Arzneien, die uns die Demokratie schenkt: Der unbedingte Wille, den Tatsachen ins Auge zu sehen, ist das beste Mittel gegen Irrwege. Diese Irrwege würden am Ende nur Leid und Tod über die Menschen bringen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, ich danke dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die große Ehre, heute vor Ihnen in diesem wunderschönen Saal unserer Stadt Braunschweig sprechen zu dürfen.

Ich wünsche Ihnen von Herzen einen gesegneten Sonntag.