Braunschweig. Grünen-Fraktionschef Hofreiter unterstellt Merkel Untätigkeit. Er spricht über VW, „Abgas-Beschiss“ und CDU-Überläuferin Elke Twesten.

Mit dem Fraktions-Chef der Bundestags-Grünen, Anton Hofreiter, sprach Andre Dolle.

CDU-Überläuferin Elke Twesten hat für das Ende von Rot-Grün in Niedersachsen gesorgt. Was würden Sie Twesten sagen, wenn Sie ihr auf der Straße begegnen würden?

Ich würde ihr sagen, dass ihre Darstellung, sie sei als Person gewählt worden, anmaßend ist. Vor ihrem Fraktionswechsel war sie völlig unbekannt, sie ist über die Grünen-Landesliste in den Landtag eingezogen. Übergelaufen zur CDU ist sie nur aus einem einzigen Grund: Sie wurde von den Grünen nicht wieder nominiert, ihr Mandat wäre abgelaufen. Sie hat der Demokratie geschadet und den Willen der Wähler ignoriert.

Frau Twesten sagt, dass sie mit der Ausrichtung der Grünen nicht mehr einverstanden war. Das nehmen Sie ihr also nicht ab?

Nein, das nehme ich ihr nicht ab. Warum wollte sie denn dann noch mal für die Grünen kandidieren?

Twesten beruft sich auf das freie Mandat, das besagt, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. Auch da haben Sie offenbar eine andere Meinung als Ihre Ex-Parteifreundin.

Abgeordnete müssen respektvoll mit dem freien Mandat umgehen. Das gilt besonders für Politiker, die über eine Liste ins Parlament einziehen.

Es scheint, dass Rot-Grün bei der Landtagswahl in Niedersachsen auf verlorenem Posten steht. Was raten Sie Ihren Parteifreunden?

Es ist nichts entschieden. Es gibt wenige Bundesländer, in denen sich Rot-Grün und Schwarz-Gelb so stark voneinander unterscheiden wie in Niedersachsen. Die Bundestagswahl überlagert noch viel. Nach der Wahl werden sich viele Wähler in Niedersachsen neu sortieren.

Die Umfragewerte der Grünen sind im Bund und in Niedersachsen jedoch schlecht.

Sie waren schon schlechter.

Warum läuft es nicht?

Wir liegen in den Umfragen im Bund immerhin bei acht Prozent.

Je nach Umfrage liegen Sie im Bund aber nur noch auf Platz sechs.

Oder auch gleichauf mit vielen anderen. Das Rennen um die drittstärkste Kraft ist offen. Prognosen werden immer schwieriger. Denken Sie an die USA oder an Großbritannien. Kanzlerin Merkel regiert seit zwölf Jahren. Die Methode Merkel funktioniert nicht ewig. Sie redet nur über Themen, statt sie anzupacken. Der CO2-Ausstoß etwa sinkt nicht. Das wird uns noch mehr Zuspruch bringen.

Liegt das Hochwasser in den Kreisen Goslar, Wolfenbüttel und Hildesheim auch am Klimawandel, oder wäre das zu verkürzt?

Die Anzahl der Extremwetter-Ereignisse hat stark zugenommen. Es ist aber wie beim Lungenkrebs: Wir wissen, dass das Rauchen die Wahrscheinlichkeit, an Lungenkrebs zu erkranken, erhöht. Wenn Sie rauchen und Lungenkrebs bekommen, weiß man aber nicht genau, ob das am Rauchen liegt. Gleiches gilt für das Hochwasser in Niedersachsen. Von zehn Hochwassern aber haben fünf ihre Ursache in der Klimakrise. Die Anzahl der Hochwasser nimmt zu.

Die Grünen fallen in diesem Wahlkampf nicht mit Forderungen wie nach dem Veggie-Day auf. Sind Sie lernfähiger geworden?

Man sollte generell lernfähiger sein (lacht). Was wir fordern, ist eine Transparenz für den Verbraucher: Er soll wissen, welche Lebensmittel er einkauft, welche Emissionen ein Auto ausstößt. Solche Schweinereien wie bei den Fipronil-Eiern oder beim Beschiss mit Abgaswerten wollen wir nicht mehr. Die Autobauer gefährden nicht nur die Gesundheit der Menschen in den Städten, sie haben auch ihre Kunden betrogen.

Grüne wie Winfried Kretschmann müssen sich andererseits den Vorwurf gefallen lassen, grünlackierte Schwarze zu sein. Haben die Grünen keinen Markenkern mehr?

Winfried Kretschmann ist ein sehr prinzipientreuer und gesetzestreuer Landespolitiker. Ihm ist es besonders wichtig, Baden-Württemberg zu dienen. In Punkten wie beim Ausstieg vom Verbrennungsmotor oder wie bei der Abschiebung von Flüchtlingen sind wir aneinandergeraten.

Was ist nun Ihr Markenkern?

Wir wollen raus aus den Kohlekraftwerken und rein in die erneuerbaren Energien. Wir wollen den Ausstieg vom fossilen Verbrennungsmotor und mehr nachhaltige Mobilität mit Bussen und Bahnen. Wir fordern eine emanzipatorische Sozialpolitik. Das heißt: gleiche Bezahlung von Männern und Frauen, Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin. Außerdem wollen wir eine humane Flüchtlingspolitik. Das bedeutet nicht, dass alle nach Deutschland herein dürfen, Flüchtlinge sollen aber human behandelt werden. Wir wollen die EU zusammenhalten, wollen gerechtere Freihandelsabkommen mit Afrika.

Viele Parteien haben mittlerweile Ur-Grüne Positionen besetzt.

Welche denn?

Die Ehe für alle ist beschlossen, die selbst ernannte Klima-Kanzlerin hat den Atom-Ausstieg besiegelt. Wozu braucht es die Grünen noch?

Merkel ist Naturwissenschaftlerin, ich auch. Sie sollte wissen, dass der Klimaschutz messbar ist. 2016 war der CO2-Ausstoß genauso hoch wie 2009. Für die schmelzenden Polkappen ist es leider völlig egal, was Frau Merkel sagt. Es zählt nur, wie sie handelt.

Linksgrüne an der Basis in den Kreisverbänden haben das Spitzenduo Özdemir und Göring-Eckardt als fade bezeichnet. Sind die beiden die richtigen?

Ja. Wir haben sie basisdemokratisch gewählt. Beide bringen eine gute Geschichte mit. Cem zeigt, dass man als Mensch mit Migrationshintergund viel erreichen kann. Er steht für Wirtschaft und Ökologie, Katrin als ehemalige Bürgerrechtlerin in der DDR für freiheitliche Grundwerte.

Özdemir und Göring-Eckardt stehen auch für den Zehn-Punkte-Plan der Grünen. Der Kohleausstieg etwa ist wachsweich formuliert. Fehlt es den Grünen an Biss?

Finden Sie? Wir wollen die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke in der nächsten Legislaturperiode abschalten. Bis 2030 wollen wir aus der Kohle ausgestiegen sein.

Das sind aber noch 13 Jahre.

Die Kanzlerin spricht von 2050. Das hätte für sie den Vorteil, dass man in der nächsten Legislaturperiode nichts machen muss.

Bei der Abschaffung von Verbrennungsmotoren hingegen lehnen Sie sich weiter aus dem Fenster.

Da wollen wir auch die Abschaffung ab 2030.

Die Debatte beim Kohleausstieg reicht aber schon weit länger zurück. Unser Leser Uwe Dahms aus Salzgitter will wissen: Mit welcher Begründung wollen die Grünen Verbrennungsmotoren verbieten?

Wir wollen ab 2030 keine Neuwagen mit Verbrennungsmotoren mehr zulassen, weil sie für Klima und Gesundheit hochproblematisch sind.

Sollten nicht die Konzerne und Käufer bestimmen, wann das Ende des Verbrennungsmotors gekommen ist? Der Markt soll das regeln.

Es ist klassische Aufgabe des Gesetzgebers, die Menschen vor Gefahren zu schützen. Der Verbrennungsmotor ist Teil der Klimakrise. Wie die Hersteller das technisch lösen, das ist Teil des freien Marktes. Wir schreiben den Unternehmen nicht vor, nur noch klassische E-Autos zu bauen. Aber es braucht einen Ordnungsrahmen und das Ziel der Null-Emission, damit die richtigen Investitionen getätigt werden.

Wann haben Sie denn zum letzten Mal eine E-Tankstelle gesehen?

Vor einer Stunde in Braunschweig. Wir hatten mit unserem Plug-in-Hybrid von BMW aber Pech: Die Tankstelle war besetzt.

Dann zählen Sie zu den wenigen Hybrid-Fahrern. Wir sind in Deutschland weit entfernt von einem dichten E-Tankstellen-Netz.

Wir sind weit entfernt von dem, was notwendig ist, ja. Ich bin mit einem Hybrid unterwegs, finde aber doch mehr Ladestellen als gedacht. Es war sehr schwer, ein Fahrzeug zu finden, das die Grenzwerte einhält. Technisch tut sich da jetzt aber sehr viel. Beim Ladestellen-Netz hingegen haben wir ein komplettes Versagen der Bundesregierung.

Unser Leser Wolfram Buchwald aus Gifhorn fragt mit Blick auf Diesel-Autos: Warum wird Flugbenzin nicht endlich besteuert? Und warum dürfen Kreuzfahrtschiffe immer noch mit einem Gemisch aus Diesel und Schweröl fahren?

Das sind zwei berechtigte Aspekte. Man muss das eine tun und darf das andere nicht lassen. Die Stickoxide aus dem Straßenverkehr töten pro Jahr 10 000 Menschen in Deutschland vorzeitig. Beim Flugbenzin wollen wir nach und nach in eine Besteuerung einsteigen. Bei Kreuzfahrtschiffen wollen wir als ersten Schritt eine Landstromversorgung, wenn die Schiffe im Hafen liegen. Auch bei Containerschiffen wollen wir Schadstoffe reduzieren.

Als Sie vor gut drei Jahren das VW-Werk in Wolfsburg besucht haben, haben Sie sich ganz begeistert gezeigt ob der Innovationsfähigkeit des Konzerns. Wie denken Sie nun, nach dem Abgas-Skandal und den Kartellvorwürfen, über VW?

Es gibt starke Hinweise auf Kartellabsprachen zwischen den Herstellern. Das Kraftfahrtbundesamt hat seine Briefe „mit industriefreundlichen Grüßen“ unterschrieben, Kanzlerin Merkel und Verkehrsminister Dobrindt haben die CO2-Grenzwerte hochgeschraubt. Sie sind indirekt beteiligt, weil sie die Konzerne gedeckt haben. Die Abgas-Kontrollen waren zu lasch, die Autoindustrie konnte machen, was sie wollte. Die Forschungsabteilungen entwickeln tolle Sachen, aber vielen Innovationen verschwinden in der Schublade. Damit gefährdet sich die Industrie selbst. Die Manager werden zum Teil mit Millionen-Abfindungen entlassen, viele Arbeitsplätze sind hingegen bedroht, weil die Konzerne die Entwicklung verschlafen haben. Konzerne aus China, Tesla aus den USA sind deutschen Konzernen in der E-Mobilität voraus.

Was muss passieren?

Wir wollen die tollen Innovationen aus den Entwicklungsabteilungen in Serie auf der Straße sehen. Die Gesetze müssen eingehalten werden. Wir fordern mehr Geld in Forschung und Entwicklung. Schließlich muss die Politik die Infrastruktur schaffen, zum Beispiel in Form von flächendeckenden E-Ladestellen. So können wir die Wende schaffen und die Arbeitsplätze in der Autobranche halten. Wenn wir an der alten Technologie festhalten, klappt das nicht. Nokia hat die Smartphone-Entwicklung verpennt, RWE und Eon haben bei den erneuerbaren Energien geschlafen. Das sind mahnende Beispiele. Wir wollen nicht, dass es VW oder BMW so ergeht.

Was ist mit den Diesel-Kunden?

Die Fahrzeuge müssen nachgerüstet werden, damit sie die Stickoxid-Grenzwerte auf der Straße einhalten. Das sind die Konzerne den Menschen in den Städten und ihren Kunden schuldig. Wenn die Softwareupdates nicht ausreichen, muss die Hardware erneuert werden. Auch beim CO2 brauchen wir klare Grenzwerte: Bis 2030 muss der Grenzwert bei null liegen. Das geht mit alternativen Antrieben.

Wer wäre der bessere Kanzler: Merkel oder Schulz?

Merkel findet schöne Worte, die Konsequenz ihrer Handlung hat sie aber nie bewiesen. Wir laborieren zum Beispiel seit 2008 an der Banken- und Finanzkrise herum. Meine Kandidaten sind sie eigentlich beide nicht. Nach zwölf Jahren Merkel sollten wir es aber mal Schulz probieren lassen.