Braunschweig. Der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Thies Marsen fesselt das Publikum beim Leserforum mit Einblicken in den NSU-Prozess.
Unser Leser Winrich Borkhart aus Braunschweig fragt:
Welche Hinweise im NSU-Prozess sind gerichtsverwertbar, welche Anklagepunkte gibt es?
Die Antwort recherchierte Sibylle Haberstumpf
Zehn Morde und tausend Fragezeichen. Das ist der NSU-Prozess, der seit vier Jahren am Oberlandesgericht München verhandelt wird. NSU – das Kürzel liest sich recht flott, doch man darf nicht vergessen, wofür es steht: für „Nationalsozialistischer Untergrund“, und in voller Länge ausgesprochen klingt das schon weitaus unangenehmer. Hintergründen des Prozesses um die im Jahr 2011 bekanntgewordene rechtsextreme Terrorserie des NSU widmete sich jetzt ein gut besuchtes Leserforum im Braunschweiger Pressehaus. Veranstaltet wurde es von der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel, der Braunschweigischen Stiftung und von unserer Zeitung. Dabei diskutierten zwei Gerichts-Kenner verschiedene Aspekte des NSU-Prozesses: der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Thies Marsen und der Braunschweiger Generalstaatsanwalt Norbert Wolf. Armin Maus, Chefredakteur unserer Zeitung, moderierte.
Zunächst: Fakten. 480 Seiten lang ist die Anklageschrift im NSU-Prozess, es gibt fünf Angeklagte und rund 600 Zeugen. Auf die Frage unseres Lesers nahm Thies Marsen Bezug: „Gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe lautet die Anklage auf Mord.“ Ermordet wurden neun Migranten und eine deutsche Polizistin in den Jahren 2000 bis 2007. Mit zwei Sprengstoffanschlägen in Köln habe Zschäpe sich auch des versuchten Mordes schuldig gemacht, zudem sei sie Mittäterin bei fünfzehn Raubüberfällen mit Schwerletzten. Der Anklagepunkt schwere Brandstiftung komme noch hinzu.
Was ist das für ein Prozess, der sich mittlerweile über vier Jahre und 368 Verhandlungstage hinzieht? Vieles ist unklar, schwierig, unbefriedigend. Es geht einerseits um das Neonazi-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Aber es geht auch um Vertuschung, um Verwicklungen des Verfassungsschutzes, um vernichtete Akten, um problematische V-Leute. Deutlicher: Es geht um „Staatsversagen“ (Armin Maus) bei der Aufklärung der Verbrechen, um Voreingenommenheit polizeilicher Ermittler und Behörden, die die Schuldigen offenbar lange lieber im familiären Umfeld der Mord-Opfer suchten, in der PKK oder der türkischen Mafia – nur nicht im rechten Milieu. „Es ist eine riesengroße, gesamtdeutsche Affäre mit vielen Details“, sagte Thies Marsen im Pressehaus. Von Anfang an beobachtet der 46-Jährige den Prozess als Berichterstatter für den Bayerischen Rundfunk. Noch stehen die Plädoyers und das Urteil aus – doch der Journalist ist jetzt schon „desillusioniert“, wie er zugab.
Der Prozess habe Spuren hinterlassen. Die „Nazi-Braut“ Beate Zschäpe, die in der rechtsradikalen Szene angehimmelt werde, sei dicker geworden und mancher Richter grauer. „Aber Gerechtigkeit wird dieser Prozess nicht bringen. Menschen und Beziehungen sind an den falschen Verdächtigungen zerbrochen, und damit auch ein Stück weit der Glaube an Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in der Gesellschaft“, meinte Marsen. Dass im Umfeld des NSU offenbar mehr als 40 V-Leute aktiv waren und der Verfassungsschutz trotzdem behaupte, erst 2011 von dessen Existenz erfahren zu haben, sei „skandalös“.
Ebenso, dass im Prozess Mitarbeiter des Verfassungsschutzes als Zeugen auftraten, „mit Erinnerungslücken in Kratergröße.“ Der Journalist ist sich sicher: „Der Verfassungsschutz hat viel gewusst und gesehen. Bestimmte Ermittlungsansätze wurden einfach nicht verfolgt.“ Marsen führt das darauf zurück: „Das Problem ist der virulente, institutionelle Rassismus, also Rassismus innerhalb der Behörden. Das kommt auch daher, weil es dort kaum Migranten gibt.“
Generalstaatsanwalt Norbert Wolf konnte aus beruflichen Gründen zwar nicht direkt über das laufende NSU-Verfahren sprechen, beleuchtete dafür aber konkrete juristische Fragen. Etwa die von Marina Behrens, die sich auf die Unübersichtlichkeit der Zeugenaussagen bezog: „Gibt es für die Richter eigentlich keine Aufnahmegeräte, um Zeugenaussagen aus den Verhandlungen noch einmal nachzuhören?“ Der Jurist erklärte dazu: „Nein, es gibt keine Audio-Video-Technik. Alles, was ein Zeuge sagt, müssen Richter für sich festhalten.“
„Warum habe ich so sehr den Eindruck, dass etwas künstlich in die Länge gezogen wird bei diesem Prozess?“, schickte Leserin Edda Hammermüller als Frage in die Runde. „Es herrscht eine große Angst, formale Fehler zu machen. Dann gäbe es Revision. Dieses Damoklesschwert schwebt über dem Prozess – dass alles noch einmal von vorne losgeht, wenn man einen Fehler findet“, sagte Marsen. Wolf ergänzte: „Man muss daher ganz genau sein.“ Was in einem Verfahren nicht festgestellt werde, könne niemals nachgeholt werden, warnte Wolf.
„Was erwarten die vielen Nebenkläger von dem Prozess“, wollte ein Leser wissen. „Wollen sie Beate Zschäpe auf glühenden Kohlen tanzen sehen?“ Thies Marsen antwortete darauf: „Nein, das möchte sicherlich keiner sehen. Denen geht es vor allem um eine Sache: um Aufklärung.“ Und zwar unter drei Gesichtspunkten, die Marsen aus Sicht der mehr als 80 Nebenkläger aufzählte. Erstens: Warum war gerade mein Angehöriger betroffen? Zweitens: Welches Netzwerk steckte noch dahinter? Und drittens: Welche Rolle spielt der Staat in der ganzen Affäre? „Das wollen die Nebenkläger wissen – und von deren Seite ist die Enttäuschung mittlerweile groß, weil diese Fragen nicht geklärt wurden.“
Zu Beginn des Prozesses im Mai 2013 hatte es in München noch große Nachfrage nach internationalen Presseplätzen gegeben. Dazu fragte ein Leser: „Wie ist heute die Beteiligung der internationalen Presse?“ Als regelmäßiger Gast auf der Pressetribüne im Gerichtssaal antwortete Marsen darauf mit einem Wort: „Null.“ Es gebe kein internationales Interesse oder Medienecho mehr – auch nicht in der Türkei. Warum nicht? Marsen: „Ich nehme an, die haben momentan andere Probleme.“
Leserforum
Kontrovers wurde es bei der Frage, warum die NSU-Ermittlungen anfangs so lange in die falsche Richtung liefen. Marsens Vorwurf, in den deutschen Sicherheitsbehörden herrsche Rassismus vor, widersprach Dietmar Schilff, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Über Fehler könne man diskutieren, sagte Schilff. Aber dieser Vorwurf treffe 400 000 Beschäftigte der Polizei und sei eine „Pauschalisierung“. Norbert Wolf pflichtete bei: „Rassismus als institutionell verankert zu sehen, halte ich auch für falsch.“ Marsen räumte ein: „Der Begriff des ,institutionellen Rassismus‘ versucht, eine Schwachstelle aufzudecken, er sagt aber nicht, dass die Institution als solche insgesamt rassistisch ist.“ Dennoch: Schon die tendenziöse Namensgebung mancher Ermittlungsgruppen wie etwa „Bosporus“ falle auf . „Ich denke, das hat schon so seine Gründe“, urteilte Marsens.