Braunschweig. 272 000 Menschen pendelten im vergangenen Jahr zum Job in einen anderen Kreis. Fünf Jahre zuvor waren es noch 32 000 weniger.

Immer mehr Arbeitnehmer in unserer Region pendeln zum Job in einen anderen Landkreis oder in eine kreisfreie Stadt. Das ist das Ergebnis von Statistiken der Arbeitsagentur Niedersachsen-Bremen und des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, die unsere Zeitung ausgewertet hat.

Demnach gab es vor sechs Jahren etwa 240 000 Pendler, die innerhalb der Region und von außerhalb in die Region zum Arbeitsplatz Kreisgrenzen über- querten. Vor einem Jahr waren es bereits 272 000 Arbeitnehmer. Das ist eine Steigerung von 32 000 Arbeitnehmern – oder 13,3 Prozent.

Pendlergrafik

Wenig überraschend haben vor allem die Großstädte Braunschweig und besonders die VW-Stadt Wolfsburg einen Zuwachs an Pendlern. Das Ausmaß bei den beiden Pendler-Magneten überrascht aber doch: Im Jahr 2000 zählte Wolfsburg etwa 50 000 Einpendler, vor sechs Jahren waren es bereits knappe 67 000 und vor einem Jahr 77 500. Das ist eine Steigerung von 55 Prozent.

Thomas Pütz vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung sagt zum Sonderfall: „Bis in die Altmark gibt es erhebliche Pendlerverflechtungen nach Wolfsburg. Die Stadt entfaltet einen wahren Pendler-Sog. Bei Städten in vergleichbarer Größenordnung gibt es eine vergleichbare Strahlkraft kein zweites Mal in Deutschland.“

In Braunschweig gibt es ebenfalls immer mehr Einpendler, aber nicht so ausgeprägt wie in Wolfsburg. Vor einem Jahr hatte die Stadt knappe 62 000 Einpendler, vor sechs Jahren waren es etwa 54 500, im Jahr 2000 erst 49 000. Da Braunschweig doppelt so groß ist wie Wolfsburg und zudem eine Technische Universität sowie zahlreiche Forschungseinrichtungen zähle, sei diese Zunahme weniger überraschend, sagt Pütz. Das sei durchaus im Bereich anderer Großstädte in vergleichbarer Größenordnung. Allerdings nehme die Dynamik bei den Pendlerzahlen in Braunschweig vergleichsweise stark zu.

Auch die Arbeitsagentur Niedersachsen-Bremen beobachtet die Pendlerströme in unserer Region und in ganz Niedersachsen. Behördin-Chefin Bärbel Höltzen-Schoh erklärt per Mitteilung: „Neue Arbeitsplätze entstehen besonders oft in den Großstädten. Die Beschäftigten weichen zum Wohnen aber vielfach ins Umland aus, da der Wohnraum dort günstiger ist.“

Die VW-Stadt Wolfsburg hat eine Sonderrolle

Pendler-Magneten blieben im vergangenen Jahr die Region Hannover mit mehr als 124 000 Einpendlern aus anderen Kreisen und eben Wolfsburg.

Der VW-Stadt Wolfsburg komme eine Sonderrolle zu. Die meisten Wolfsburg-Pendler lebten in den umliegenden Landkreisen, rund 3000 von ihnen wohnten aber auch im Raum Hannover, erklärte Höltzen-Schoh. „Mit dem ICE dauert die Strecke zwischen Hannover und Wolfsburg nur noch eine halbe Stunde“, erklärte sie.

Eine gute Verkehrsanbindung lasse auch entferntere Arbeitsplätze immer attraktiver erscheinen. Außerdem sorgten Doppelverdiener-Haushalte für den Anstieg bei den Pendlerzahlen: „Bei zwei Berufstätigen gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass mindestens einer pendelt oder der Wohnort so gewählt wird, dass beide pendeln.“

Die Leiterin der Regionaldirektion betonte: „Mehr als jeder dritte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte pendelt in einem anderen Kreis zur Arbeit. Und es werden tendenziell mehr.“

Das liegt allerdings auch an der Entwicklung des Arbeitsmarktes – der Pendlerzuwachs erfolgt oft parallel zum Anstieg der Beschäftigung. Dazu kommt der Trend zu häufigeren Jobwechseln. Außerdem sind immer mehr Frauen berufstätig.

Ein weiterer Grund sind laut der Arbeitsagentur Niedersachsen-Bremen die Familienstrukturen. Die Stabilität dieser Strukturen verändere sich, es gebe einen Trend zu Patchwork-Familien. Damit die Kinder nicht die Schule oder den Kindergarten wechseln müssten, würden die Eltern lieber einen längeren Weg zur Arbeit in Kauf nehmen.

Verkehrsexperte: Wir werden in Zukunft noch mehr Pendler haben

In unserer Region gibt es neben den beiden Großstädten Braunschweig und Wolfsburg ja noch eine weitere Großstadt: Salzgitter. Gemessen an der Zahl der Einwohner ist auch hier die Zahl der Einpendler relativ hoch. Sie lag vergangenes Jahr bei etwa 24 500. Fünf Jahre zuvor waren es etwa 22 700. Eine Zahl aus dem Jahr 2000 lag nicht vor.

Die Macher der beiden Statistiken haben Göttingen jeweils zu unserer Region gezählt. Demnach hatte die Stadt vor einem Jahr 37 200 Einpendler, im Jahr 2000 waren es noch 32 300. Pütz vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung aus Bonn sagt: „Göttingen ist als Arbeitsmarktraum solitär. Drumherum gibt es keine größeren Städte, kaum Verflechtungen zu Braunschweig, Wolfsburg oder auch Kassel. Wir haben es hier mit einer klassischen Kernstadt-Umland-Verflechtung zu tun.“

Das sei in unserer Region mit den drei Großstädten Braunschweig, Wolfsburg und Salzgitter sowie den umliegenden Landkreisen anders. „Hier gibt es starke Verflechtungen untereinander.“ Von den 62 000 Einpendlern in Braunschweig kommen 46 500 aus der Region. Täglich fahren zum Beispiel 13 500 Arbeitnehmer aus dem Landkreis Wolfenbüttel nach Braunschweig zur Arbeit, 9200 aus dem Kreis Peine und 7700 aus dem Kreis Gifhorn.

Unter den Landkreisen hat Gifhorn selbst die meisten Einpendler: knappe 14 000. Auf den Plätzen folgen die Kreise Goslar (12 250), Peine (10 250), Wolfenbüttel (10 000) sowie das Schlusslicht Helmstedt (9250).

Von den 77 500 Einpendlern in Wolfsburg kommen mehr als 57 000 aus der Region. Alleine aus dem Kreis Gifhorn fahren täglich knappe 27 000 Menschen zur Arbeit nach Wolfsburg.

Die aktuellen Daten decken sich mit einer Studie des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung (NIW) aus dem Jahr 2010. Demnach verbleiben mehr als 90 Prozent der Auspendler aus den Kreisen Helmstedt, Gifhorn und Wolfenbüttel in der Region. Die Pendlerströme aus den Randkreisen Peine und Goslar seien laut NIW zwar geringer, lägen aber immer noch bei etwa 60 Prozent. Daran hat sich offenbar seit 2010 nicht viel geändert.

Professor Christoph Menzel vom Institut für Verkehrsmanagement der Ostfalia-Hochschule aus Salzgitter sieht in der starken Autoaffinität einen Grund für die hohen Pendlerzahlen in der Region. „Wir werden in Zukunft noch mehr Pendler haben“, ist sich Menzel sicher. Die Schwarmstadteffekte mit Blick auf Wolfsburg und Braunschweig würden noch mehr zunehmen. Verbunden mit den immer höheren Mietpreisen in diesen Städten würden die Speckgürtelgemeinden immer mehr profitieren. Ganz nach dem Motto: Wohnen in Lehre oder Cremlingen, arbeiten in Braunschweig oder Wolfsburg.

Für Gutverdiener gelte jedoch: „Wolfsburg ist als Wohnstandort immer attraktiver geworden.“ Das gelte auch für Salzgitter, das derzeit Wohngebiete erschließe. Unter den Kreisen werde Gifhorn mit den Auto-Zulieferern wie IAV bei den Pendlerzahlen zulegen.

Schließlich werde der Ausbau des Nahverkehrs in unserer Region mittelfristig für steigende Pendlerzahlen sorgen, sagt Menzel. Die Bahnstrecke Weddeler Schleife zwischen Braunschweig und Wolfsburg soll das zweite Gleis erhalten, die Region erhält sukzessive mehr Geld für den Nahverkehr. Statt der derzeit knappen 70 Millionen Euro sind es im Jahr 2021 schon 100 Millionen Euro.