Braunschweig. Der ukrainische Botschafter in Deutschland plädiert für die Verschärfung von Sanktionen gegen Russland.

Der Ukrainer Andrij Melnyk (41) ist seit Dezember 2014 Botschafter in Deutschland. Auf Einladung des Vereins „Freie Ukraine“ war er in Braunschweig und stellte sich im BZV Medienhaus den Fragen unserer Leser. Dirk Breyvogel moderierte das Gespräch und schrieb es auf.

„Trump ist die große Unbekannte für alle.“
„Trump ist die große Unbekannte für alle.“ © Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland

Redaktion: Herr Melnyk, was für Fähigkeiten muss man mitbringen, um Botschafter zu werden?

Formal gibt es ein paar Dinge, die man können muss. Dazu gehört es, zwei Fremdsprachen zu beherrschen. Andere Eigenschaften sind nicht offiziell geregelt, aber ein Muss. Man sollte schon kommunikativ, dynamisch und flexibel sein. Auch Lebenserfahrung ist wichtig. Aber man muss nicht nur eloquent reden, sondern auch aufmerksam zuhören können.

Klaus Reisdorf: Wie sehen Sie die Lage in der Ostukraine, wo angeblich jeden Tag Menschen sterben?

Es stimmt, der gefährliche Konflikt besteht, auch wenn der Öffentlichkeit in Zeiten des Syrien-Kriegs und der schrecklichen Ereignisse in Aleppo das nicht mehr so bewusst gemacht wird. Wir als Ukrainer erleben tagtäglich unser eigenes „ukrainisches Aleppo“. Der einzige Unterschied ist, dass die Luftwaffe nicht im Einsatz ist. Eine Million Menschen leben und leiden an der sogenannten Kontaktlinie zu den besetzten Gebieten im Osten, darunter sind 150 000 Kinder. Über 200 000 Menschen wurden in sieben Mobilisierungswellen zum Militär berufen. Täglich wird geschossen und der Zerstörungsgrad durch Raketenwerfer, schwere Artillerie und Panzer ist ähnlich hoch wie in Syrien. Dieser zermürbende Stellungskrieg tobt seit Jahren. Das ist die bittere Realität.

Reisdorf: Gilt denn das Minsker Abkommen überhaupt noch?

Das Abkommen von 2015 bleibt die einzige Verhandlungsbasis. Das Wichtigste ist, dass Putin persönlich unterschrieben hat. Darauf kann man sich berufen. Es ist ein Kompromiss und niemand ist mit einem Kompromiss hundertprozentig zufrieden. Das Abkommen hat aber noch größeres Blutvergießen verhindert. Und solange Minsk gilt, gibt es die Hoffnung, dass sich der Krieg nicht ausweitet. Das darf man nicht unterschätzen. Das sage ich allen, die glauben, man müsse neu verhandeln. Was fehlt, und darüber gibt es eine unterschiedliche Auffassung, ist bis heute, in welcher Reihenfolge die ausverhandelten Punkte umgesetzt werden.

Reisdorf: Die Waffenruhe wird aber auch von der Ukraine verletzt. Oder liege ich da falsch?

Den Russen ist es gelungen, auf der Basis von Minsk eine Situation zu schaffen, dass beide Seiten beschuldigt werden können, die Feuerpause nicht einzuhalten. Die Ukraine wird jede Nacht bis zu hundertmal beschossen. Irgendwann muss ein Land darauf reagieren und seine Bevölkerung verteidigen. Jede einzelne Reaktion unsererseits gilt formell als Verletzung des Abkommens. Die Lösung ist, und da appelliere ich auch an die Bundesregierung als Vermittlerin in dem Konflikt, öfter mal klarzustellen, wer angreift und wer reagiert. Dieser Krieg – und das ist letztlich auch das Ziel der russischen Seite – ist ein hybrider Krieg, in dem sehr perfide agiert wird.

Leonard Haselhuhn: Putin hat erklärt, die Pässe in den Regionen Donezk und Luhansk anzuerkennen – ein Bruch mit dem Abkommen. Wie muss die Reaktion aussehen?

Das hat uns – die Ukraine und die Deutschen – auf der Münchner Sicherheitskonferenz überrascht. Aber es ist naiv zu glauben, dass der russische Außenminister Lawrow das nicht wusste. Das war eine bewusste Provokation, um zu zeigen, dass man die Lage im Griff hat. Auch da hätten wir uns von der Bundesregierung gewünscht, sich nicht nur klar zu positionieren, sondern härter gegenüber Moskau zu handeln. Man schwächt sich aus meiner Sicht selbst, wenn man als Vermittler ständig versucht, Neutralität zu wahren.

Haselhuhn: Welche Möglichkeiten hat die Weltgemeinschaft, um Russland Einhalt zu gebieten?

Das Einzige, das man selbst in der Hand hat, sind wirtschaftliche Sanktionen. Die sind vital. Über die Lockerung der Sanktionen wurde schon diskutiert, aber wenige haben sich einen Plan überlegt, was passiert, wenn die Provokationen zunehmen und die Eskalationsstufen steigen. Hier würde ich mir mehr Mut wünschen, die Sanktionen auch zu verschärfen. Diese Debatte kommt mir zu kurz.

Ali Idris: Wie sehen Sie die Wahl von US-Präsident Donald Trump? Erwarten Sie eine veränderte Politik gegenüber Putin?

Donald Trump ist die große Unbekannte für alle. Es ist noch zu früh zu sagen, wie die Position der Amerikaner in diesem Konflikt ist. Die ersten Gespräche, die mein Präsident mit Trump geführt hat, stimmen vorsichtig optimistisch. Wir wollen nicht glauben, dass Trump Putin einen Freifahrtschein für rücksichtsloses Handeln erteilen wird. Für die Ukrainer ist klar: Es gibt einen Deal und der liegt seit zwei Jahren auf dem Tisch. Er heißt: Minsker Abkommen. Wir können nicht ausschließen, dass es über unsere Köpfe hinweg eine Vereinbarung zwischen Russland und den USA geben könnte. Auch darauf müssen wir uns womöglich vorbereiten.

Jasmin Haunschild: Aber es gibt doch Konfliktlinien innerhalb der Bevölkerung. Braucht es daher nicht auch eine innerukrainische Lösung? Was halten Sie also von mehr Selbstbestimmung für die autonomen Regionen?

Die Sichtweise, dass sich ein Teil der Ukraine von Kiew angeblich losgesagt hat, ist eine, die Russland immer wieder propagiert. Sie ist aber schlicht falsch. Es ist ein Märchen. Es gab im Osten des Landes in der Geschichte der unabhängigen Ukraine nie eine politische Bewegung, die sich dieses Ziel auf die Fahnen geschrieben hat. Der Grund ist einfach: Kiew hat immer die Region Donbass subventioniert und nicht umgekehrt, wie von der russischen Seite behauptet wird.

Haunschild: Aber hat die EU mit dem angestrebten Assoziierungsabkommen und den Vorgaben mit Blick beispielsweise auf Marktliberalisierung die Ukraine nicht erst in diese schwierige Lage gebracht?

Nein, denn der wichtigste Handelspartner der Regionen Donezk und Luhansk war nie Russland, sondern war die EU, die Türkei und erst an dritter Stelle Russland. Das kann man nachlesen. Auch die Tatsache, dass viele Ukrainer dort russisch sprechen, war nie ein Hindernis. Auch ich, der im Westen der Ukraine geboren bin, betrachte Russisch als zweite Muttersprache. Es gab auch nie eine Mehrheit im Osten, die sich vor dem Krieg gegen die Mitgliedschaft in der EU ausgesprochen haben. In unserem Empfinden ist es daher ein von Russland künstlich provozierter Konflikt. Und dieses Empfinden basiert auf Fakten.

Idris: Inwieweit ist die Ukraine noch in der Lage, die Verpflichtungen für seine Bürger zu leisten? Manche sprechen ja schon von einem „failing state“, weil Dinge, die die Souveränität eines Staates ausmachen, nicht vorhanden sind...

Ein „failing State“ ist ein Staat, der nicht imstande ist zu funktionieren. Dafür gibt es keine Anzeichen. Wir hatten im vergangenen Jahr wieder ein Wirtschaftswachstum. Wir haben demokratisch gewählte Präsidenten und Parlament. Der Staat kann die Menschenrechte einhalten. Wir haben knapp zwei Millionen Binnenflüchtlinge, die mehrheitlich im Umkreis ihrer Heimat bleiben und nicht das Land verlassen, weil sie die Hoffnung haben, bald wieder zurückzukehren. Ich lade Sie alle ein, mal nach Kiew zu fliegen. Die Menschen leben ihr Leben und sitzen in Cafés. Wenn man dort ist, glaubt man nicht, dass in dem Land ein Krieg tobt. Der Grund: Die Menschen sind zuversichtlich und verlieren nicht den Mut.

Idris: Spielt hier das Nationalgefühl der Ukrainer eine große Rolle?

Der Drang nach Freiheit steckt in jedem Ukrainer. Das ist fest in unserer DNA. Es gab viele Situationen in der Geschichte des ukrainischen Volkes, in denen es nicht glücklich war, weil es nicht frei war, selbstbestimmt zu handeln. Das hat Putin unterschätzt, als er versuchte in ein Land einzumarschieren, in dem viele Menschen Russisch sprechen. Ein jubelnder Empfang mit Fähnchen ist ausgeblieben, sein Feldzug gescheitert.

Haselhuhn: Fühlen Sie sich von der EU nicht im Stich gelassen?

Nein, obzwar man sich immer mehr Engagement wünschen kann. Diese Situation, die jetzt leider vorherrscht, ist in gewisser Weise auch ein Ansporn, innenpolitische Reformen wie die Bekämpfung der Korruption, die man immer wieder aufgeschoben hat, noch vehementer anzugehen. Entweder wir überleben – und das wird uns am Ende viel stärker machen. Oder wir werden diesen Kampf verlieren. Wir tragen die Verantwortung für unser Schicksal. Wir sind aber natürlich dankbar für die Hilfe von unseren europäischen Freunden.

Haunschild: Wie könnte diese Hilfe aussehen?

Es geht nicht um finanzielle Hilfen, sondern vielmehr um die Stärkung von Institutionen. Die Menschen haben zwar Vertrauen, aber der Staat selbst war immer ein fragiles Konstrukt. Und deswegen: Um diesen Staat zu einem Staat zu machen, der seinen Bürgern dient, brauchen wir Zeit und auch Beistand von außen. Deutschland ist ein Paradebeispiel, wie man die groß angelegten Reformen in der Ukraine mit Rat und Tat unterstützt.