Braunschweig. Der Ex-Spitzel „Görlich“ arbeitet bis heute als Professor an der TU Braunschweig. Jahrelang spionierte er einen engen Kollegen aus.

Unser Leser, der sich „Beobachter“ nennt, sagt auf unseren Internetseiten:

Man erkennt sie nicht als IM, man denkt, es ist ein guter Freund. Man plaudert über dies und das. Dann diese böse Überraschung. So musste ich es auch erfahren.

Zum Thema recherchierte Andre Dolle

„Es ist außergewöhnlich, dass Görlich in Braun- schweig wieder von seiner Vergangenheit in Person seines Opfers eingeholt wurde.“
„Es ist außergewöhnlich, dass Görlich in Braun- schweig wieder von seiner Vergangenheit in Person seines Opfers eingeholt wurde.“ © Hans-Jürgen Grasemann, ehemals Erfassungsstelle für DDR-Unrecht

Es gibt Momente im Leben, da wird man von einem Menschen bitter enttäuscht: vom Partner, vom Bruder oder von einem Arbeitskollegen. Bei Markus Albers (Name geändert) war das der Fall. Er saß in einer Forschungseinrichtung in der DDR mehr als zehn Jahre lang mit einem Kollegen zusammen in einem Zweier-Büro. Die Schreibtische waren nur wenige Meter voneinander entfernt, die beiden machten Scherze, verstanden sich gut.

Was Albers nicht wusste: Es war sein Kollege, IM „Görlich“, wie ihn die Stasi nannte, der ihn von 1983 bis 1989 bespitzelte. Der Spitzel und sein Opfer ziehen kurz nach der Wende nach Braunschweig. Hier kreuzen sich ihre Wege wieder, erst hier erfährt Albers, dass Görlich ihn ausspionierte. Albers sagt: „Wäre die Mauer später gefallen, hätte ich wegen Görlichs Aussagen im Gefängnis landen können.“

Albers äußerte sich in der DDR offen und kritisch zu den Entwicklungen. Er arbeitete in kirchlichen Gruppen, hielt Vorträge, in denen er zur Auseinandersetzung mit der verordneten Fortschrittsgläubigkeit aufrief. Nicht zuletzt spielten seine Forschungen für die Stasi eine Rolle. Die Stasi setzte Görlich schließlich auf Albers an.

Albers, der heute in Sachsen-Anhalt arbeitet, bricht den Kontakt zu Görlich Mitte der 90er ab. Er hat kein Vertrauen mehr. In Braunschweig arbeiteten die beiden zuvor institutsübergreifend zusammen, betreuten Doktoranden – Görlich als Professor an der TU, Albers als Forscher einer Einrichtung in Braunschweig. Er hielt außerdem Vorlesungen an Görlichs Lehrstuhl.

Görlich war für Albers der wichtigste Kontakt an der TU. Dass er nun nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, war ein deutlicher Einschnitt in seine Kooperation mit der Uni. Der Ex-Spitzel Görlich hingegen ist bis heute als Professor an der Universität aktiv.

Die Stasi setzt Görlich unter Druck

Ein gemeinsamer Kollege erfährt aus seiner Stasi-Akte, dass Görlich ein Spitzel war und erzählt dies Anfang 1996 Albers. „Ich empfand eine tiefe Enttäuschung und ein Entsetzen über sein Verhalten“, sagt Albers.

Die beiden sprechen miteinander. Görlich erklärt, er habe kooperieren müssen. Sein Sohn habe studieren wollen, um Kapitän zu werden. Das habe auf dem Spiel gestanden. Görlich versichert, er habe nie etwas berichtet, was Albers hätte schaden können.

Doch sechs Monate später erhält Albers Einblick in seine eigene Akte, fällt erneut aus allen Wolken. Görlich erzählte der Stasi nicht nur, dass Albers versuche, über Wissenschaftler aus dem verhassten Westen „Einladungen in die BRD“ zu ergattern. Görlich berichtete auch, dass Albers Kontakte zu Oppositionellen in der Kirche stärke. Ebenfalls schwer wog, dass Albers Post anderer Wissenschaftler mitgenommen habe, um sie der Kontrolle der Stasi zu entziehen. Es handelte sich um Post an Kollegen im westlichen Ausland.

Albers erklärt heute, dass vieles, was Görlich der Stasi berichtete, wahr ist. Die Stasi sprang darauf an, womöglich machte der Stasi-Offizier mehr aus der Sache, als dran war. Fakt ist jedoch, dass sich die Schlinge für Albers im Sommer 1989 allmählich zuzog. Für die Stasi stand fest, dass Albers ein Spion war. Sie leitete eine operative Personenkontrolle ein, um ihn zu überführen.

Vier Millionen Ost-Bürger im Visier

Ein Blick von außen auf die Spitzel-Geschichte mag lohnen: Der ehemalige Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann war von 1988 bis 1994 Sprecher der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter. Die Behörde sammelte Informationen über Verbrechen an DDR-Bürgern. Grasemann vermutet, dass Görlich mit seiner Vergangenheit in der DDR nichts mehr zu tun haben wollte, deshalb nach Braunschweig zog. „Es ist schon außergewöhnlich, dass Görlich in Braunschweig wieder von seiner Vergangenheit in Person seines Opfers eingeholt wurde“, sagt Grasemann.

Ob Albers wegen Görlich wirklich ins Gefängnis gemusst hätte, sei schwer einzuschätzen. Das übersteigerte Interesse der Stasi an Albers erkennt aber auch Grasemann an, als ihm der Fall geschildert wird. Er gibt jedoch zu bedenken: „Die Stasi hatte in der Geschichte der DDR vier Millionen Ost-Bürger und zwei Millionen West-Bürger im Visier – eine unermessliche Zahl. Die Stasi konnte gar nicht so viele Bürger inhaftieren, wie sie wollte.“

Uni-Präsident Rebe macht nichts

Enttäuscht ist Albers auch von der TU. Als er die Kontakte zur Uni abbricht und seine Gründe nennt, erfährt er Unverständnis. „Wasch’ deine dreckige Wäsche doch zu Hause“, sagten ihm Kollegen. „Es gab leider wenige Stimmen, die gesagt haben, dass es moralisch nicht zu vertreten wäre, dass ein Ex-IM als Professor Studenten erzieht“, so Albers.

Auch der damalige Uni-Präsident Bernd Rebe, ein Jurist, zeigt kein glückliches Händchen. Bei einem gemeinsamen Gespräch Anfang 1998 zwischen Rebe, Görlich und Albers in Rebes Büro soll alles auf den Tisch kommen. Erst jetzt stellt sich Rebe auf die Seite des Opfers. Konsequenzen bleiben für Görlich jedoch aus. Dabei hatte er bei seiner Verbeamtung ein Formular unterschrieben, nicht für die Stasi gearbeitet zu haben. Bis heute hat sich für Görlich an seiner komfortablen Lage nichts geändert. Dabei hätte ein Zweizeiler von Albers an das niedersächsische Kultusministerium ausgereicht, um Görlich die Karriere zu versauen. Albers sagt, er wollte nicht so viel Macht über Görlich haben wie dieser einst über ihn. Dass er keinen Brief ans Kultusministerium schreiben werde, sagt Albers auch Rebe und Ex-IM Görlich im Sechs-Augen-Gespräch. Er sagt aber auch, dass Görlich von nun an mit der Bürde leben müsse, dass der Fall bei vielen Kollegen innerhalb und außerhalb der TU bekanntwerde. Denn Albers erklärt, er werde auf Anfragen antworten und entsprechende Unterlagen zur Verfügung stellen. So verfuhr Albers auch gegenüber unserer Zeitung. Der Kontakt war nicht immer leicht, da Albers in den vergangenen Wochen auf Tagungen im Ausland war.

CDU fordert Enquete-Kommission

Es ist dieser ignorante Umgang mit der Stasi-Vergangenheit, der die Aufarbeitung von Fällen im Westen schwer macht. Zumindest in Niedersachsen entsteht derzeit ein Sinneswandel. Björn Thümler, Fraktionsvorsitzender der CDU im Landtag, hat einen Vorstoß gewagt. Die CDU will eine Enquete-Kommission einsetzen.

Thümler sagt: „Trotz zahlloser wissenschaftlicher Studien und Projekte stehen wir am Anfang einer gesellschaftlichen Aufarbeitung der Stasi-Aktivitäten in Westdeutschland.“ Noch würden viele Zeitzeugen leben, die über die Aktivitäten der Staatssicherheit Auskunft geben könnten. Die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit dürfe nicht auf die ostdeutschen Länder beschränkt bleiben, so Thümler. Erst kürzlich erschienen Medienberichte über Stasi-Spitzel im Verfassungsschutz und im Innenministerium in Niedersachsen.

Ex-Oberstaatsanwalt Grasemann begrüßt eine solche Enquete-Kommission. Er gibt aber zu bedenken: „Das ist eine Riesenaufgabe und kostet Geld.“

An der TU Braunschweig findet eine solche Aufarbeitung bereits statt. Als sich ein Journalist der „Zeit“, der auf Albers und Görlich stieß, an den jetzigen Uni-Präsidenten Jürgen Hesselbach wandte, leitete dieser gleich erste Schritte ein. Er stellte Nachforschungen an, sprach persönlich mit Görlich und Albers, er sprach mit Kollegen von damals, ließ Uni-Archive durchforsten. Es fand sich nur ein einziger Brief von Albers an Rebe. Mehr nicht.

Rebe ließ keine Gesprächsprotokolle anfertigen, ließ sich nicht die Stasi-Akten besorgen. Trotzdem sagt Hesselbach: „Die Dienststelle hatte alle Infos, um tätig zu werden.“ Gemeint ist sein Vorgänger Rebe.

Hesselbach selbst hingegen nimmt Kontakt zum Kultusministerium auf. Schnell wird klar, es gibt im Fall Görlich nur zwei Möglichkeiten: Daumen rauf oder runter. Hesselbach: „Aufgrund der zeitlichen Distanz wäre es heute unverhältnismäßig, ihm zu kündigen. Als Beamter hat er sich außerdem tadellos verhalten.“

Eine Attacke gegen Görlich kann sich Hesselbach nicht verkneifen. „Albers ist großes Unrecht geschehen. Diese menschliche Enttäuschung muss erschütternd gewesen sein.“ Das sei die Meinung des Menschen Hesselbach, fügt der TU-Präsident hinzu, nicht die des Dienstherren.

Auch Görlich wurde bespitzelt

Görlich will sich erklären. Er hat zu einem Gespräch in sein Büro an der TU gebeten. Wenige Tage zuvor ist der Artikel bei „Zeit Online“ erschienen. Er arbeitet nur noch von zu Hause aus, sagt er, schläft schlecht. „Ich vibriere innerlich.“ Nun kommt alles wieder hoch. Er erzählt, dass er nie Berichte geschrieben habe, dass er sich dem Stasi-Offizier, der zwei- oder dreimal pro Jahr vorbeikam, mündlich erklären musste. Görlich erzählt, wie subtil der Stasi-Offizier vorgegangen sei. „Wie geht es Ihrem Sohn? Will der nicht studieren?“ Da wusste Görlich: Jetzt muss er liefern.

Görlich sagt, dass er eigentlich nur mit „Ja“ oder „Nein“ auf Fragen des Stasi-Offiziers habe antworten müssen. „Der wusste ja schon fast alles, wollte nur noch Bestätigungen haben.“ So sei das auch mit der Post gewesen, die Albers eingesteckt hatte – oder mit den Westeinladungen.

Das sieht Albers ganz anders. Angebliche Westeinladungen etwa habe er sich nie erschleichen wollen. Auch in anderen Punkten gehen die Versionen der beiden auseinander. Da wäre zum Beispiel ihr Verhältnis nach 1998. Görlich behauptet, es habe zwar Jahre der Funkstille gegeben. Dann sei er aber wieder auf Albers zugegangen, habe ihm eine wichtige Funktion auf einer in Braunschweig stattfindenden Tagung im Jahr 2004 zugewiesen. „Wenn wir uns zufällig am Bahnhof oder am Flughafen getroffen haben, haben wir Smalltalk geführt“, sagt Görlich. Dazu sagt Albers: „Ich kann mich ja wie ein zivilisierter Mensch benehmen.“ Görlich erklärt, dass er beim Gespräch mit Rebe und Albers in Tränen ausgebrochen sei. Albers habe seine Entschuldigung angenommen. Albers: „So unterschiedlich können Sichtweisen sein.“

Görlich, auf den als anerkannten Forscher auch Stasi-Spitzel angesetzt wurden, gibt Fehler zu. „Ich habe moralisch versagt.“ Uni-Präsident Rebe gab ihm eine zweite Chance. „Ich habe mich danach umso mehr für die Uni ins Zeug gelegt.“ Görlich sagt: „Ich bin Professor mit Leib und Seele, möchte wieder vor Studenten treten. Deswegen gehe ich an die Öffentlichkeit.“ Der Ex-IM will mit der Vergangenheit abschließen. Albers kann das nicht.

DAS IST DIE STASI

Wie ein riesiges Spinnennetz überzog das System der Stasi-Spitzel die gesamte DDR. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatte alle Lebensbereiche der DDR-Bürger infiltriert, um sie auf staatsfeindliche Aktionen hin zu überwachen. Die Erkenntnisse wurden in Millionen von Stasi-Akten festgehalten.

Auf insgesamt 180.000 wird die Zahl der hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter von 1950 bis 1989 geschätzt. Doch stützte sich die Behörde von Stasi-Chef Erich Mielke vor allem auf das Heer der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). 1989 verfügte die Stasi über 89.000 hauptamtliche und 173.000 IM. Zusammen waren das 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der DDR im Alter zwischen 18 und 65 Jahren.