Ukraine-Krieg in Fotos: Lebensader Bahn – Sie lassen die Züge weiterrollen

Zugführer, Gleisarbeiter, Instandsetzerinnen: Sie halten den Betrieb der Bahn in der Ukraine aufrecht – und damit das Leben. Reto Klar (Fotos) und Jan Jessen (Text) waren bei diesen Menschen entlang der Strecken und mit ihnen unterwegs. Ihre Porträts sind nun in deutschen Bahnhöfen zu sehen.

Foto: Reto Klar

Im Krieg ist die Bahn eine der wichtigsten Lebensadern in der Ukraine. Züge haben Millionen Menschen aus den Kampfzonen in Sicherheit gebracht. Züge transportieren Hilfsgüter, Waffen und das Getreide, das nicht mehr über die Schwarzmeer-Häfen exportiert werden kann. Ohne die rund 230.000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner der staatlichen Bahngesellschaft Ukrsalisnyzja wäre es nicht möglich, dass die Züge trotz des Krieges weiterrollen. Die Funke-Reporter Reto Klar (Fotos) und Jan Jessen (Texte) haben im Frühjahr die Ukraine bereist und für die Deutsche Bahn und die Funke Mediengruppe einige dieser Menschen porträtiert. Die Deutsche Bahn stellt diese Porträts jetzt in den kommenden Monaten in verschiedenen deutschen Bahnhöfen aus.

Der Bautrupp

Foto: Reto Klar

Oleksii Palamarchuck (oben), Oleh Kybenko (Mitte) und Viktor Kotvytskyi arbeiten in einem Bautrupp bei Slowjansk im Osten der Ukraine. Sie und die anderen in ihrem Team halten die Gleise in Schuss, damit die Züge problemlos fahren können. Kotvytskyi stammt aus einer Eisenbahnerfamilie, schon seine Eltern haben für die Ukrsalisnyzja gearbeitet. „Ich wollte die Tradition weiterführen.“ Die Männer in seiner Brigade sind für ihn mehr als Freunde, sie sind wie Brüder. „Der Krieg hat uns noch enger zusammengeschweißt“, sagt er. „Wenn es etwas Gutes am Krieg gibt, dann ist es, dass er uns menschlicher macht.“

Der Gleisarbeiter

Foto: Reto Klar

Vadym Goncharov stammt aus einer Eisenbahnerfamilie. Schon seine Großmutter und sein Großvater waren Bahner. Er arbeitet in einem Reparatur-Trupp bei Kramatorsk. „Wir geben hier alles, damit die Züge sicher fahren können“, sagt er. Seit dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 haben er und seine Kollegen mehr zu tun als früher. „Wegen der ständigen Angriffe müssen wir mehr reparieren. Vorher war unser Leben viel ruhiger.“ Als der Bahnhof von Kramatorsk am 8. April 2022 bombardiert wird und 57 Menschen sterben, eilt Goncharov sofort von zu Hause aus dorthin. „Wir haben geholfen. Das ist unsere Pflicht.“

Die Instandsetzerinnen

Foto: Reto Klar

Aurika Maiboroda (li) und Rushania Diachenko arbeiten in einem Instandhaltungswerk der ukrainischen Eisenbahn in der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer. Hier werden Achsen und Räder repariert und neue Räder hergestellt. Maiboroda ist Kranführerin. Das Schwierigste am Krieg, sagt sie, sei es, morgens von zu Hause wegzugehen und nicht zu wissen, ob die Familie am Abend noch am Leben ist. Maiboroda hat drei Enkelkinder. Diachenko kontrolliert mit einem Ultraschallgerät Räder und Achsen auf Schäden. „Ich bin stolz darauf, meinen Teil dazu beitragen zu können, dass unser Eisenbahnsystem trotz des Krieges weiter funktioniert“, sagt sie.

Die Bahnhofsvorsteherin

Foto: Reto Klar

Liubov Patsiura ist seit drei Jahrzehnten Bahnhofsvorsteherin in Kramatorsk im Osten der Ukraine. Von ihrem Bahnhof aus fahren Züge nach Westen in die Hauptstadt Kyiv und nach Odessa im Süden. Im Krieg sei es schwierig zu arbeiten, mental wie körperlich, sagt sie. „Aber wenn ich abends nach Hause komme und weiß, ich habe alles für die Passagiere gegeben, dann bin ich zufrieden.“ Der schlimmste Tag in ihrem Leben ist der 8. April 2022. An diesem Tag treffen russische Raketen ihren Bahnhof und töten 57 Menschen, die meisten von ihnen Flüchtlinge. Ein kleines Denkmal erinnert an die Opfer.

Der Brigadeleiter

Foto: Reto Klar

Serhii Telpuk ist der Leiter eines Arbeitstrupps, der Gleise instand hält. Er arbeitet seit 1989 bei der Bahn. Seine acht Männer und er sind in Kramatorsk im Osten der Ukraine eingesetzt. „Sie geben alles, sie arbeiten hundertprozentig“, sagt er. Bis nach Donezk, der Hauptstadt der gleichnamigen Region, in der Kramatorsk liegt, sind es gerade einmal rund 120 Kilometer. Seit 2014 ist die Strecke dorthin geschlossen. „Alles hat einen Beginn und ein Ende. Sie wird wieder geöffnet werden“, ist Telpuk überzeugt. Am Bahnhof von Kramatorsk stehen alte Güterwaggons. Sie sollen Passagierzüge schützen, wenn Bomben explodieren. „Wir haben keine Angst. Wir sind bereit zu arbeiten“, sagt Telpuk.

Die Flüchtlinge

Foto: Reto Klar

Vitali Galka, Oksana Chabanova und ihre Kinder Anastasiia und Vlada fliehen im März aus Odessa. Es ist die Zeit, in der ihre Heimatstadt Cherson täglich von den russischen Streitkräften vom anderen Ufer des Dnepr beschossen wird. „Es ist hier zu gefährlich, die Kinder können nicht draußen spielen“, sagt Galka. Im Bahnhof werden sie von der Polizei registriert. Dann fahren sie mit dem Zug 700 Kilometer weiter nach Nordwesten, nach Chmelnyzkyi. Die Fahrt ist für sie kostenlos, weil sie Flüchtlinge sind. Anastasiia kann dort endlich weiter zur Schule gehen. Seit dem Beginn der russischen Invasion hat die Bahn bereits vier Millionen Menschen in Sicherheit gebracht.

Der Hafenarbeiter

Foto: Reto Klar

Wenn Andrii Levytskyi arbeitslos wird, hat die Welt ein Problem. Er arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten im Hafen von Odessa. Dort kommen Züge mit den Getreideladungen aus dem ganzen Land an. Levytskyi entlädt diese Züge. Vor der russischen Invasion im Februar 2022 werden 97 Prozent der Agrar-Transporte über die Häfen abgewickelt. Danach blockiert die russische Marine die Häfen. Die ukrainischen Exporte brechen ein, mit dramatischen globalen Folgen. Das Land gilt als eine der wichtigsten Kornkammern der Welt. Ein brüchiges Getreideabkommen kurbelt die Exporte wieder an. Levytskyi weiß: Was er und seine Kollegen tun, ist wichtig. Er sagt: „Ich bin stolz darauf“.

Der Güterzugführer

Foto: Reto Klar

Oleksandr Petrovych Simchenko ist ein Veteran. Er arbeitet seit sechs Jahrzehnten für die Bahn. 2014 hat er begonnen, im Hafen von Odessa Güterloks zu fahren. Mit seiner Diesel-Lok aus dem Jahr 1982 rangiert er die Waggons voller Getreide, die im Hafen ankommen. In den ersten Wochen nach dem russischen Überfall, als kein Weizen oder Mais mehr aus dem Hafen herausging, verbringt er seine Zeit vor allem mit Reparaturarbeiten. Jetzt ist die Arbeit intensiver geworden, weil nicht mehr alle ukrainischen Häfen mit Getreide beliefert werden können. „Wir müssen jetzt flexibler arbeiten. Aber das ist der Job.“

Die Servicemitarbeiterin

Foto: Reto Klar

Halyna Kolesnykova arbeitet seit vier Jahrzehnten in der Information des Bahnhofs von Cherson. Während der bleiernen Zeit der russischen Besatzung bleibt sie zu Hause. Am 17. November, wenige Tage nach der Befreiung, ist sie erstmals wieder in ihrem Bahnhof. Er ist vermüllt, vieles ist kaputt. „Wir haben alles sauber gemacht. Jetzt ist der Bahnhof wieder schön.“ In den ersten Monaten nach der Befreiung wird Cherson täglich von den Russen bombardiert. Viele Menschen fliehen deshalb aus der Stadt. Kolesenykova und ihre Kollegen versorgen die Flüchtlinge mit Kaffee und Tee. Sie bleibt. Der Bahnhof ist ihr zweites Zuhause.

Die Inspektoren

Foto: Reto Klar

Ievgen Nagrebelnyi (li) und Vasyl Gud arbeiten am Bahnhof von Cherson. Vasyl Gud ist schon seit vier Jahrzehnten bei der Eisenbahngesellschaft. Sie müssen die Sicherheit der Züge gewährleisten. Die beiden haben Holzstäbe mit einem Metallkopf bei sich. Damit kontrollieren sie die Räder der einfahrenden Züge auf Schäden. Ist etwas kaputt, muss der Wagen ausgewechselt werden. Sie schauen auch, ob alle Leitungen korrekt verbunden sind. Während der russischen Besatzung sind sie monatelang zu Hause. Nach der Befreiung gehen sie wieder arbeiten. „Als der erste Zug aus Kyiv am 19. November wieder in unserem Bahnhof eingefahren ist, waren wir sehr stolz“, sagt Gud.

Der Bahnchef 2021-2023

Foto: Reto Klar

Oleksandr Kamyshin lebt ein ganzes Jahr fast ausschließlich in einem Eisenbahnwaggon. Bis Ende Februar 2023 ist er der Vorstandsvorsitzende der Ukrsalisnyzja. Er und sein Team sorgen maßgeblich dafür, dass die Züge in der Ukraine trotz des Krieges und ständiger Bombardierungen weiterfahren. Unter seiner Regie werden mehr als vier Millionen Menschen und 125.000 Haustiere in Sicherheit gebracht und zahlreiche ausländische Staatschefs mit der Bahn ins Land gefahren, darunter auch US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz. Ohne seine 230.000 Mitarbeiter, sagt Kamyshin, hätte er das nicht leisten können. „Sie sind eine eiserne Armee.“ Seit März 2023 ist Kamyshin Minister für strategische Industrie.

Der Ingenieur

Foto: Reto Klar

Artem Rikhno ist in Kostjantyniwka im Osten der Ukraine verantwortlich für die Instandhaltung der Bahninfrastruktur der Region. Er hat in Donezk studiert, der Stadt, die seit 2014 von pro-russischen Separatisten kontrolliert wird. Seitdem fahren keine Passagierzüge mehr nach Donezk. Auf dem Bild steht er in einem Gebäude am Bahnhof von Kramatorsk, das bei einem russischen Luftangriff zerstört wurde. Tausende Male sind in dem Krieg Gleise, Brücken und Bahnhöfe beschädigt worden. „Es dauert nur einen ganz kurzen Moment, etwas zu zerstören. Aber es wird viele Jahre benötigen, bis wir alles wieder aufbauen können“, sagt Rikhno.

Die Mediziner

Foto: Reto Klar

Albina Zharkova ist eine ukrainische Ärztin, Fred ein Krankenpfleger aus Schweden. Im März fahren die beiden mit anderen Helfern der „Ärzte ohne Grenzen“ mit einem Evakuierungszug von Lwiw im Westen des Landes nach Pokrowsk im Osten. Bis zu 43 Patienten finden in dem Zug Platz, Menschen, die schwer krank sind oder verwundet wurden. Sie werden aus den Gebieten herausgebracht, in denen ihnen sie nicht behandelt werden können, weil dort immer wieder Raketen einschlagen. Innerhalb eines Jahres konnten mit dem Zug 2900 Menschen in Sicherheit gebracht werden. „Ich mache das freiwillig, weil ich meinen Leuten helfen will“, sagt Albina.

Der Schrankenwärter

Foto: Reto Klar

Der Arbeitsplatz von Ihor Berlowski ist ein kleines Häuschen in einem Wäldchen nicht weit entfernt von Mykolajiw. Hier schiebt er seit 17 Jahren Dienst. An seinem Posten kommt pro Tag ein Güterzug vorbei, für den er die Schranken schließen und wieder öffnen muss. Nur einer. Aber der fährt jeden Tag, als gäbe es den Krieg nicht. Das macht Berloswki stolz. Oft sitzt er aber an seinem alten Schreibtisch und schaut auf das Gleis, und dann denkt er die über 700 Kolleginnen und Kollegen der der Ukrasalisnyzja, die schon in diesem Krieg gestorben sind. „Wir werden sie nie vergessen“, sagt er.

Der Passagier

Foto: Reto Klar

Arkadii Kravchenko (vorne) dient mit seinen Kameraden in einer Luftabwehr-Einheit. Sie beschützen die ukrainischen Städte vor russischen Luftangriffen. Er hat sich freiwillig gemeldet, vor dem Krieg hat er Lastwagen gefahren. Die Soldaten fahren im Nachtzug von Odessa nach Kyiv zu einer Übung. „Ich bin glücklich, dass die Züge alle so pünktlich fahren. Ich weiß nicht, wie es funktioniert. Aber es funktioniert. Das ist bewundernswert.“ Ihnen steht ein stressiger Tag bevor, deswegen wollen sie auf den Pritschen im Abteil ausschlafen. Die Fenster des Abteils sind mit Plastikfolie beklebt. Es ist ein Schutz gegen Detonationen. Die Folie soll verhindern, dass Glassplitter in das Abteil fliegen, wenn draußen Bomben explodieren.

Die Zugbegleiterin

Foto: Reto Klar

Oksana Popova fährt seit sieben Jahren im Nachtzug auf der Strecke Odessa nach Kiew. Sie kontrolliert die Tickets, serviert heißen Tee, kümmert sich um das Wohlbefinden der Passagiere. Die Sicherheit ihrer Gäste ist ihr sehr wichtig. In der Regel benehmen sich die Passagiere sehr ordentlich, sagt sie. Die ersten Monate nach der russischen Invasion sind hart. „Es gab Bombardierungen, die Infrastruktur wurde beschädigt, es gab logistische Probleme.“ Sie hat aber nie daran gedacht, den Job aufzugeben. Die Eisenbahner sind ihre Familie. Und jetzt ist es viel besser geworden. Ihr Nachtzug fährt pünktlich von Odessa ab und kommt pünktlich in Kyjiv an.

Der Zugführer

Foto: Reto Klar

Oleksandr Opalinskyi ist seit viereinhalb Jahren Zugführer. Von der ukrainischen Hauptstadt Kyiv aus fährt er am liebsten die Strecke nach Lwiw. „Aber alle Strecken in unserem Land sind schön, weil unser Land wunderschön ist. Aber jetzt will es der Feind zerstören.“ Manchmal hat er Angst, wenn er vorne in seiner Lok sitzt, weil die Bahninfrastruktur immer wieder beschossen wird. „Nur dumme Menschen haben keine Angst. Aber wir müssen unsere Passagiere sicher zu ihrem Ziel bringen. Wir sind für sie verantwortlich.“ Nach dem Krieg möchte Opalinskyi einmal mit einem Zug nach Dresden fahren. Das ist sein großer Traum.

Die Eisenbahnstadt

Foto: Reto Klar

Lyman ist eine Stadt im Oblast Donezk im Osten der Ukraine. Sie ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Vor dem Beginn der russischen Invasion lebten in Lyman etwa 20.000 Menschen. Am 26. Mai 2022 wird die Stadt von russischen Streitkräften eingenommen. Von hier aus organisieren sie den Nachschub über die Schiene für die gesamte Ostukraine.

Am 1. Oktober befreien die ukrainischen Streitkräfte die Stadt. Die Bahninfrastruktur ist zerstört. Es wird lange dauern, ehe alle Schäden behoben sind. Im Frühjahr 2023 leben nur noch wenige Menschen in Lyman. Die Stadt wird zu dieser Zeit immer wieder von Geschossen getroffen. In den zerstörten Gebäuden am Rangierbahnhof liegen noch viele Blindgänger. Es ist lebensgefährlich, sie zu betreten.

Die Foto-Ausstellung „Lebensader Bahn“ ist hier zu sehen:


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