Braunschweig. Reza Asghari, Professor für Entrepreneurship an TU und Ostfalia, kam vor 34 Jahren als Flüchtling nach Braunschweig. Sigrid Probst half ihm.

Es ist spät, als sie ihn holen. Die Sonne, die den ganzen Tag auf die flachen Dächer von Teheran herabgebrannt hatte, ist vor mehr als zwei Stunden untergegangen. Aber die Hitze ist noch da. Der Fernseher säuselt, was, weiß Reza Asghari nicht mehr. Aber dass das Klingeln an der Haustür diesen kleinen Frieden im August 1983 durchreißt, weiß er ganz genau. Die zweijährige Tochter seiner Verwandten, die ihn verstecken, schläft weiter, als der Vater aus dem Haus über den Hof zum Tor geht. Mehrere Männer stehen dort, halten ein Papier hoch. Haftbefehl des iranischen Revolutionsgerichts. Asghari späht hinaus und setzt sich dann wieder auf den Sessel im Wohnzimmer. Der 22-Jährige zündet sich eine Zigarette an, Marke Bahman. Seine Flucht ist vorbei.

Und in diesem einen kleinen Moment spürt er Erleichterung. Seit 1978 hatte sich Asghari in der Jugendorganisation einer regimekritischen linken Partei engagiert. Als sie am 4. Mai 1983 verboten wurde, floh Asghari aus seinem Elternhaus in Isfahan, fünf Autostunden südlich von Teheran, in den Untergrund. Er hatte von Folter an Parteimitgliedern gehört, von Exekutionen.

Fast einen Monat lang sind seine Augen verbunden, Tag und Nacht

Die Zigarette ist noch nicht runtergebrannt, als die Männer kurz danach vor ihm im Wohnzimmer stehen und ihm den Haftbefehl entgegen strecken. Asghari, der nur eine dünne Jogginghose trägt, darf sich noch umziehen, ein paar Sachen packen, ein Hemd, eine Zahnbürste, Unterwäsche. Aber nicht allein. Einer der Männer begleitet ihn in das Zimmer, in dem er seine wenigen Dinge aufbewahrt. Als er kurze Zeit später in ihr Auto steigt, verbindet ihm einer der Männer die Augen und drückt seinen Kopf nach unten auf die Knie. Zwei bis drei Minuten später verliert er die Orientierung.

Wo genau er die nächsten zwei Jahre und sieben Monate verbringt, weiß Asghari nicht. Ein Gefängnis, so viel ist sicher. 27 Tage lang wird er auf dem Hof festgehalten, unter der Sonne. Schutz vor ihr bieten nur die Wolken. Wenn sie kommen. Das Gefängnis, heillos überfüllt. Aber die sengende Hitze ist erträglich, die Dunkelheit, die folgt, nur schwierig. Fast einen Monat lang sind seine Augen verbunden, Tag und Nacht. Er sitzt in einer Zelle, darf sich nicht bewegen. Immer wieder wird er hochgerissen, in ein Verhörzimmer geschleppt. Von wo die Schläge kommen, sieht er nicht. Aber sie kommen, jedes Mal.

Probst lässt nicht locker, bis sie in die Zast darf

Im gleichen Jahr, 1983, mehr als 3600 Kilometer nordwestlich von Teheran, wird die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (Zast), der Vorläufer der Landesaufnahmebehörde (LAB), von Hannover nach Braunschweig verlegt. Und an einem späten Abend irgendwann danach sieht Sigrid Probst in der Nähe des Herzog-Anton-Ulrich-Museums zwei Männer, die die Arme in die Höhe reißen und winken. Als sie ihr Auto anhält und die Scheibe herunterkurbelt, hört sie „Asyl, Asyl, Asyl“. Die Anfang 50-Jährige ist in der Braunschweiger Gruppe von Amnesty International engagiert. Sie lässt die Männer einsteigen und bringt sie zur alten Kaserne am Altewiekring, der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber. Die Männer steigen aus und gehen in das Gebäude. Sie aber darf nicht hinein. Ein Pförtner läuft auf den Hof und schreit: „Hauen Sie ab.“ Da war klar, dass sie am nächsten Tag wiederkommen würde.

Und danach wieder. Als sie nicht weiterkommt, fragt sie zwei dunkelhäutige Männer, ob sie sie ins Bezirksamt begleiten. Dort fordert sie ein Papier ein, eine Art Ausweis, mit dem sie Zugang zur Zast bekommen würde. Als ein Sachbearbeiter sagt, dass es so etwas nicht gebe, sagt Probst: „Dann bleiben wir hier.“ Und mit den zwei Männern setzt sie sich. Und wartet. Bis jemand herauskommt und sagt: „Sie bekommen ihren Ausweis.“

1986 gründet Probst die Flüchtlingshilfe Refugium

Und dann sieht sie die durchgebrochenen Betten in den Schlafsälen der Zast, Frauen, die umherirren, Menschen, die nicht wissen, was sie tun sollen, weil die Formulare für den Ablauf ihres Aufenthalts und ihres Asylverfahrens ausschließlich auf Deutsch verfasst sind. Sie geht an die Technische Universität, fragt ob jemand aus dem Iran stammt oder Farsi spricht, ob irgendjemand übersetzen kann.

„Ich bin jetzt dran“, denkt Probst damals. „Das ist meine Aufgabe.“ Sie geht fast täglich in die alte Kaserne, trägt das Thema in die Ortsgruppe von Amnesty International, findet Mitstreiter. Aber nicht jeder hält es aus. Eine Frau, die Probst begleitet, geht nie wieder mit. Am Abend stürzt sie drei Schnäpse runter und sagt Probst am nächsten Tag, dass sie das nicht kann. Zu schwer sei das Leid zu ertragen. 1986 gründet Probst mit weiteren Engagierten dann die FlüchtlingshilfeRefugium, die bis heute aktiv ist. Es ist das Jahr, in dem Asghari in Teheran aus der Haft entlassen wird.

Aus der Folterhaft in ein normales Gefängnis

Im Oktober 1983 wird er zunächst aus der Folterhaft in ein normales Gefängnis verlegt, sieben Monate später dann einem Richter vorgeführt. Nach 15 Minuten ist seine Verhandlung vorbei. Die Anklage wird verlesen und er muss um Verzeihung bitten, den Richter, das Land, Allah. Eine Verteidigung wäre als Abtrünnigkeit ausgelegt worden. Einen Anwalt sieht Asghari nicht. Zwei Jahre lautet das Urteil. Es hätten auch sieben oder zehn sein können. Ein Gesetz regelt das nicht, es herrscht Willkür.

Während wegen seiner Verhaftung sein Elternhaus observiert wird, Verwandte verhaftet und verhört werden und Reza Asghari im ganzen Stadtteil als Ungläubiger abgestempelt wird, muss er sich als politischer Häftling besonders in Acht nehmen. Er muss sich im Gefängnis streng an die Regeln halten, an religiösen Kursen teilnehmen. Aber er darf auch eine Stunde Sport am Tag machen. Und er darf lesen. Endlich wieder lesen.

Er ist einer der besten seines Jahrgangs

Dass das nicht selbstverständlich ist, lernt er nicht erst in Haft. Seine Eltern waren Analphabeten. Mit 13 liest er zum ersten Mal ein unter dem Schah-Regime, gegen das er sich später auflehnt, verbotenes Buch: „Der kleine schwarze Fisch“ von Samad Behrangi. Es ist eine Kindergeschichte, in dem Mohammad Reza Pahlavi, der letzte Schah des Irans, versteckte Kritik und Aufruf zum Widerstand gegen sein Regime sieht. Sein Lehrer gibt es Asghari und sagt: „Zeig es niemandem.“ Das macht ihn stutzig und er wird aufmerksamer, hört von Verhaftungen in der Nachbarschaft. Später macht er bei Demonstrationen gegen den Schah mit, nimmt als Abiturient Kontakt zu oppositionellen Studenten auf.

Und irgendwann in dieser Zeit belegt er bei der landesweiten Aufnahmeprüfung für die Universität Platz 1900 unter 150.000 Teilnehmern. Er ist der erste aus der Familie, der studiert. Ingenieurwissenschaften. Doch das währt nur ein Semester. Bei der unter Ruhollah Musawi Chomeini 1980 angezettelte Kulturrevolution, die den Schah stürzt und den Einfluss der Religion in der Gesellschaft stärken soll, werden in den ersten Jahren hunderte Professoren entlassen und tausende Studenten exmatrikuliert. Asghari ist einer von ihnen.

Als er zum Wehrdienst eingezogen werden soll, flieht er erneut

Als er aus der Haft entlassen wird und in seine Heimatstadt Isfahan zurückkehrt, will er sein Studium wieder aufnehmen. Doch er wird nicht zugelassen. Stattdessen hält er einen Brief in der Hand, der ihn zu einer Kaserne zitiert. Zum Wehrdienst. Zur Zeit des Ersten Golfkriegs bedeutet das für einen ehemaligen politischen Häftling Kampf an vorderster Front.

Und da beschließt er, wieder zu fliehen und diesmal das Land zu verlassen. Im August 1986 soll er eingezogen werden, einen Monat vorher noch meldet er sich in der Kaserne – und taucht dann ab. Es folgen sieben Monate im Untergrund, voller Bangen ertappt zu werden. Junge Menschen werden häufig auf der Straße kontrolliert. Er fälscht selbst einen Personalausweis. Ein Schlepper verlangt 10.000 Dollar, um ihn über die Türkei nach Deutschland zu bringen. Die hat er nicht. Sein einziger Ausweg: Mit falschem Reisepass ausreisen. Er findet jemanden, der ihm bei der Fälschung weiterer Dokumente hilft. Auf der Polizeistation in Teheran, mit falschen Dokumenten in der Hand und einem rasenden Herzen in der Brust, beantragt er einen Reisepass. Es funktioniert. Und über Istanbul und Ost-Berlin kommt Asghari nach West-Berlin. Nach einem Asylantrag wird er nach Niedersachsen verteilt. Die erste Anlaufstelle: Braunschweig. Und dort kreuzen sich 1987 die Wege von Sigrid Probst und Reza Asghari.

„Ich bin zu Hause“

34 Jahre später treffen sie sich an einem warmen Sommertag im Technologiepark am Braunschweiger Rebenring, um ihre Geschichte zu erzählen. Probst, die in der Flüchtlingshilfe eine Lebensaufgabe fand, die zahlreiche Asylsuchende bei sich aufnahm und auf dem Weg in die deutsche Gesellschaft begleitete, und Asghari, der als Professor für Entrepreneurship an der TU Braunschweig und der Ostfalia-Hochschule junge Menschen auf dem Weg zum eigenen Unternehmen begleitet und sagt: „Mein Beruf ist nicht nur ein Beruf, sondern die Befähigung junger Menschen, die Errungenschaften dieses Landes zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass Deutschland auch in Zukunft erfolgreich ist. Deutschland bedeutet mir sehr viel.“ 34 Jahre lang haben sie sich nicht aus den Augen verloren.

Für Asghari ist Deutschland das Land, in dem er frei leben kann, in dem er studieren durfte, in dem er Karriere machte und bei einem seiner ersten Treffen von Amnesty International seine Frau kennenlernte. Dorthin nahm Probst ihn mit, die ihn in der Zast kennenlernte und sich mit ihm auf den langen Weg durch die deutsche Bürokratie machte, die bei Problemen nicht locker ließ. Im Jahr 2000 führte dieser Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft. Ob er es auch ohne Probst geschafft hätte? „So ein Mensch schafft es am Ende immer“, antwortet Probst. Asghari vertiefte autodidaktisch während der Haftzeit seine Englischkenntnisse erheblich, später brachte sich selbst Deutsch bei, er holte sein Abitur nach, nachdem sein iranischer Abschluss nicht anerkannt wurde, er studierte, promovierte und wurde im gleichen Jahr, in dem er die Staatsbürgerschaft bekam, zum Professor berufen.

Und dann, ein paar Jahre später, nach einer Konferenz im sonnigen Südafrika, als das Flugzeug im Landeanflug auf Hannover-Langenhagen durch eine dichte graue Wolkenschicht taucht, denkt Asghari zum ersten Mal über dieses Deutschland: „Ich bin zu Hause.“ In diesem Moment, in diesem schmuddelig norddeutschen Wetter, das Welten von dem seines Heimatlandes entfernt ist.

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