Braunschweig. In Niedersachsen gibt es seit Jahresbeginn schon 53 Masernfälle. Doch viele Ärzte warnen vor Panikmache – und setzen auf bessere Aufklärung.

Bei 133.368 Einwohnern im Landkreis (Peine). Bei diesem Zahlenverhältnis sage ich nur: Bange machen gilt nicht.

Das schreibt Peter Christoph auf unseren Facebook-Seiten.

Zu dem Thema recherchierte Katrin Schiebold.

Schon wieder ein Masernfall in der Region Peine. Eine 40-Jährige habe sich mit dem Virus infiziert , teilte der Landkreis am Mittwoch mit. Das Gesundheitsamt informiere nun alle Kontaktpersonen der Frau und überprüfe ihren Impfstatus. Es ist der achte Fall seit Beginn des Jahres – und die Nachricht sorgt allein deswegen schon für Aufsehen, weil es im benachbarten Hildesheim kürzlich zu mehreren Masernausbrüchen an Schulen gekommen war. Auch in anderen Regionen Deutschlands treten Masern wieder auf, was die Diskussion um eine Impfpflicht neu entfacht hat. Denn Masernerkrankungen sind extrem ansteckend und können einen tödlichen Verlauf nehmen. Es sei „ein Skandal, dass immer mehr Kinder in Deutschland erkranken“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Doch stimmt das wirklich? Und ist ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gerechtfertigt, den eine Impfpflicht ja darstellen würde.

Das Thema ist emotional aufgeladen; Impfgegner und Impfbefürworter stehen sich oft unversöhnlich gegenüber. Auch die Meinungen in der Ärzteschaft gehen mitunter weit auseinander: Der Berufsverband der Kinder-und Jugendärzte setzt sich seit Jahren für eine Impfpflicht ein, andere Mediziner lehnen Zwang kategorisch ab. Tatsächlich hat sich die Zahl der gemeldeten Masern-Erkrankungen 2019 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erhöht. In Niedersachsen sind nach Angaben des Landesgesundheitsamtes 53 Masernfälle registriert worden – das sind schon mehr, als im gesamten Vorjahr zu verzeichnen waren; da waren es 18 Fälle. Die meisten Ausbrüche gab es im Raum Hildesheim , wo 30 Personen an Masern erkrankt sind, gefolgt von Peine. Schaut man sich allerdings die Statistik davor an, wird deutlich, dass die Zahl der registrierten Fälle stark schwankt. Bundesweit wurden 2018 für das gesamte Jahr 543 Fälle gemeldet, 2017 waren es 929 – und 2015 sogar 2465. Von „immer mehr“ Masernfällen kann also nicht die Rede sein.

„Wir brauchen eine Versachlichung der Diskussion“, fordert denn auch der Braunschweiger Allgemeinmediziner Wolfgang Schneider-Rathert. Als Sprecher der Arbeitsgruppe Impfen in der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) hat er sich intensiv mit den Statistiken befasst – und warnt vor Panikmache. Gleichwohl befürwortet die DEGAM die zweimalige Impfung gegen Masern und setzt sich nachdrücklich für eine vollständige Durchimpfung der Bevölkerung ein. Eine Impfpflicht lehnt sie ab, „weil ihr Nutzen unklar und sie womöglich nicht geeignet ist, das Ziel höherer Durchimpfungsraten zu erreichen“.

Schon heute lassen die meisten Eltern ihr Kind impfen.Doch um Krankheiten wirklich auszurotten, müssen die Impfraten bei über 95 Prozent liegen. Nach einer aktuellen Studie des Robert-Koch-Instituts sind in Deutschland mehr als 97 Prozent der Kinder einmalig gegen Masern geimpft. Um einen vollständigen Schutz zu erreichen, muss die Impfung nach einem gewissen Zeitraum jedoch wiederholt werden – und da liegt die Quote mit 93,6 Prozent niedriger. Oftmals werden Impftermine verpasst. Oder Kinder-und Jugendärzte müssen sich mit besorgten Eltern auseinander setzen, die sich vor schweren Impffolgen fürchten. „Viele Behauptungen von Impfgegnern sind wissenschaftlich längst widerlegt. Schutzimpfungen gegen Masern, Mumps und Röteln können zum Beispiel nicht Autismus auslösen – auch wenn solche Falschinformationen noch immer in sozialen Netzwerken kursieren“, heißt es in einer Pressemitteilung des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte. Der Braunschweiger Schneider-Rathert vermutet zudem, dass wiederholte milliardenschwere Strafzahlungen wegen erheblicher Missstände in der Pharmaindustrie viele Patienten verunsichern. Sie wüssten nicht, was und wem sie glauben sollten. „Zur Überwindung der Vertrauenskrise beim Impfen muss die Pharmaindustrie alle relevanten Daten zu Wirkung und Nebenwirkung transparent und vollständig für den wissenschaftlichen Diskurs zur Verfügung stellen“, fordert er.

Einige Experten meinen, dass die derzeitige Diskussion um eine Impfpflicht für Kinder am Kern des Problems vorbei geht . Denn weit gravierender sei, dass etliche Erwachsene nicht ausreichend gegen Masern geschützt sind – ohne es zu wissen. Impflücken gebe es vor allem Männer und Frauen zwischen 20 und 50 Jahren, bestätigt Holger Scharlach, Sprecher des Landesgesundheitsamts in Hannover. „Jeder sollte deshalb in den Impfpass schauen.“ Allgemeinmediziner schlagen zudem vor, dass bei den Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig der Impfstatus kontrolliert wird.

Eine Impfpflicht lehnt auch Carsten Gieseking, Vorsitzender des Hausärzteverbands Braunschweig, wegen des schweren Eingriffs in Freiheitsrechte ab. Vielmehr appelliert er an die Vernunft und die Solidarität der Bürger. Denn es gibt auch Menschen, die sich nicht impfen lassen können, etwa wenn sie an einer chronischen Erkrankung leiden. Auch Babys sind für manche Impfungen noch zu jung. Sie sind darauf angewiesen, dass die Menschen in ihrem Umfeld geimpft sind und ihnen Schutz vor der Ausbreitung und Ansteckung mit der Krankheit bieten. „Herdenschutz ist notwendig“ , sagt Gieseking. „Leute, die sich nicht impfen lassen, gefährden die Gemeinschaft.“