Berlin. Im 63. Jahr löst sich der Gesangswettbewerb aus der Schockstarre und versucht es mit: nur guter Musik. Und das funktioniert sogar.
Eins vorweg: Das war wohl der sympathischste Cast für den Eurovision Song Contest, den es je gab. Jeden dieser sechs Teilnehmer hätte man getrost nach Lissabon schicken können. Sie sagen „Mann, ich will nicht verkacken“ oder sie stehen an der Schafsweide und blöken mit den Schafen um die Wette. Und das Wichtigste: Noch nie hat Deutschland versucht, eine Gruppe von reinen Musiker-Handwerkern zusammen zu stellen, die ganz unironisch einfach schon immer genau das machen wollten: gute Musik.
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27, geboren in der Nähe von Flensburg, und damit in der Tat der beste Sänger des Abends. Doch zuvor gab es eine Show, die so kurzweilig war, dass man sich fast wünscht, es färbe auf den großen europäischen Wettbewerb ab. Die Moderatoren Elton (46) und Linda Zervakis (43) kamen zwar nicht ohne zotige Witze aus („Unser Glied für Lissabon“, die Form der Bühne rief bei einigen Zuschauern gewisse Assoziationen hervor), aber sie führen immerhin so hemdsärmelig durch den Abend, als würden sie nur eine kleine Talentshow moderieren.
„Nur ein Land, das geliebt werden will“
„Eurovision, wir müssen reden“, sagt Elton und verweist gespielt beleidigt darauf, dass Deutschland in den vergangenen drei Jahren zweimal den letzten und einmal den vorletzten Platz belegt hat. Linda Zervakis fasst es so zusammen: „Deutschland ist doch auch nur ein Land, das geliebt werden will.“
Schon die ersten drei Sänger erfüllen genau dieses Bild vom „netten kleinen Land“:
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21, in Tiflis geboren steht im Vorstellungsvideos im Second-Laden Humana und ruft kichernd „Ich bin in Berlin!“ Etwas heiser singt sie dann im weißen Kleid von ihrem Weg aus Georgien nach Deutschland: „My own way“. Gleich nach ihr legt Ryk nach mit einer Rockballade am Klavier nach: „You and I“.
Teilnehmer des ESC-Vorentscheids 2018
Im besten Sinne „herzig“
Begleitet wird er von Streicherquartett und einer Akrobatin — nichts vom regenbogenbunten Feuerwerk, das früher jeden Song unterlegte. Die Band bayrische Schuhplattler-Band voXXclub fällt ebenfalls aus dem Rahmen, wenn auch viel lauter. Die fünf Männer singen einen absurden Text von „Polka in Rio“ und “Gläser heben”, aber kommen ohne „Dahoam“-Deutschtümelei aus, sondern tun das im besten Sinne: „herzig“.
In der Pause machen die Moderatoren klar, dass der Bruch mit dem früheren ESC-Regeln noch weitergeht: Nachdem der NDR sich eine blutige Nase holte, als er eigenmächtig Xavier Naidoo zum ESC schicken wollte, gab es in diesem Jahr ganze 4000 Künstler, aus denen diese sechs ausgewählt wurden. Und nach der Show sind nun drei (in Zahlen: 3) Jurys gefragt: Die erste besteht aus 20 internationale Eurovision-Experten, die zweite Jury besteht aus 100 Fans des ESC — und die dritte sind wie immer die Zuschauer. Bei so viel Modernität wirkt es fast etwas altbacken, wenn dann die Norwegerin und ESC-Expertin Margaret Berger etwas überfordert sagen soll, was es braucht, um zu gewinnen: „Man muss den Ton treffen können.“
Die nächsten drei Künstler der Show konnte das auch: Der Wahl-Münchner Xavier Darcy singt unglaublich inbrünstig und mit eigenwilligem X-Beine-Tanz einen Rocksong Song über „Jonah“. In seinem Vorstellungsvideo sagt er von sich: „Ich bin einfach ein Typ mit Gitarre!“
König des Abends ist Michael Schulte
Direkt danach schwärmt die Berlinerin Ivy Quainoo über ihre Lieblingsgegend (Berlin-Moabit) und Lieblingskreuzung: Checkpoint Charlie – „Da darf man quer laufen.“ Ihr Song „House on Fire“ klingt verdächtig nach der Britin Adele, aber muss sich nicht verstecken. Auch ihr Outfit (goldene Haut und seltsamer langer Ohrring) ist glamourös und gleichzeitig zurückhaltend.
Doch der König des Abends ist eben Michael Schulte. Der Mann aus dem Norden im dunklen T-Shirt tritt bescheiden auf, hat aber 50 Millionen Klicks auf Youtube und sang schon mit Ed Sheeran. Sein Lied „You let me walk alone“ ist ein Lied über seinen Vater, der vor 13 Jahren starb, da war Schulte 14 Jahre alt. Im Text beschreibt er eine schöne Kindheit und Jugend mit Mutter und zwei Geschwistern – in der nur eben der Vater fehlt. Kein Feuerwerk, ein bisschen Glitzerregen und im Hintergrund auf einer Leinwand Bilder vom Vater. „Wenn die Dinge schiefgehen, vermisse ich dich am meisten.“
Die drei Jurys waren sich einig. Am Ende steht Michael Schulte fast schüchtern unter den anderen fünf Künstlern. „Ich nehme die Wahl an“, sagt er. Und Deutschland, das kleine nette Land, hat damit sogar eine echte Chance beim ESC. Mehr Herz als dieser Norddeutsche kriegen wir nie auf die Bühne.