Braunschweig. Eine Schießerei mitten im Westlichen Ringgebiet – fünf Männer müssen sich dafür verantworten. Und ab dem 8. März noch weitere vier Männer mehr.

Im Oktober vergangenen Jahres startete vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Braunschweig der Prozess, in dem die Vorfälle vom 17. April vergangenen Jahres aufgeklärt werden sollen.

Auf der Luisenstraße im Westlichen Ringgebiet war es am späten Abend zu einer Schießerei gekommen, bei der Angehörige und Freunde, die sich um eine Familie gruppieren, auf Mitglieder und Freunde einer anderen Familie geschossen haben sollen. Laut Staatsanwaltschaft handelt es sich um einen Fall von Clankriminalität.

Was geschah am 17. April 2021 in Braunschweig?

Der Tatvorwurf lautet: Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und versuchter Totschlag. Herausgefunden werden muss auch, ob es sich nicht sogar um versuchten Mord gehandelt haben könnte. Das könnte der Fall sein, sollte Rache ein Beweggrund sein, der zur Tat geführt hat.

Am Tatabend wurde auch eine vorbeifahrende Tram der Linie 3 getroffen, die auf der Luisenstraße Richtung Weststadt unterwegs war. Die Insassen blieben körperlich unversehrt.
Am Tatabend wurde auch eine vorbeifahrende Tram der Linie 3 getroffen, die auf der Luisenstraße Richtung Weststadt unterwegs war. Die Insassen blieben körperlich unversehrt. © Privat

Am Tatabend sollen sich die Angeklagten mit der Absicht verabredet haben, mindestens einen Angehörigen der gegnerischen Gruppe zu töten. Sie seien unter anderem mit Knüppeln beziehungsweise Baseballschlägern sowie einer Machete und mindestens einer scharfen Schusswaffe bewaffnet gewesen. An der Luisenstraße trafen sie auf die gegnerische Gruppe. Ein Auto trug Einschusslöcher ebenso davon wie ein Mülleimer, der an einem Ampelmast befestigt war. Auch eine Hauswand sowie eine vorbeifahrende Straßenbahn der Linie 3 wurden getroffen. Verletzt wurde niemand. Die Polizei stellte acht Patronenhülsen sicher.

Zwar konnten unter anderem ein Baseballschläger und eine Machete sichergestellt werden. Von einer Schusswaffe fehlt bisher jedoch jede Spur. Unklar ist auch, wie viele Schützen es gegeben hat. Zeugen berichteten von vier, andere sprechen von einem.

Was ist zur Vorgeschichte der Schießerei bekannt?

Die Schießerei am Abend könnte ein Racheakt für eine Schlägerei in einem Supermarkt in der Weststadt gewesen sein, bei der auch eine Schreckschusswaffe zum Einsatz gekommen war. Der Streit zwischen den zwei Gruppen reicht jedoch schon weiter zurück. Einige Monate zuvor, im November 2020, hatte es einen Angriff von Mitgliedern der vermeintlichen Gegenseite auf einen Mann gegeben, der der Seite der derzeit Angeklagten zugeordnet wird.

Aus gelöschten und dann rekonstruierten Chatverläufen, die eine Polizistin auswertete, wurde in diesem Zusammenhang unter anderem die sinngemäße Aussage „Ich töte für Dich, Bruder“ von einem der derzeit Angeklagten gefunden. Einige Polizisten, die im Prozess aussagten, schilderte, dass die Streitigkeiten der zwei Gruppen in der Vergangenheit häufiger zu Polizeieinsätzen geführt hätten. Aus Zeugenaussagen wurde auch deutlich: Zumindest einige der Angeklagten waren mit Angehörigen der Gegenseite irgendwann einmal befreundet. Und dann, schilderte ein Zeuge der Gegenseite, habe es sich „krass entwickelt“.

Wer ist angeklagt?

Vor dem Landgericht Braunschweig verantworten müssen sich fünf Männer im Alter zwischen 21 und 32 Jahren. Sie sind deutscher, türkischer beziehungsweise tunesischer Staatsangehörigkeit. Zweien droht seit 2019 die Abschiebung in die Türkei. Da einer der Angeklagten zur Tatzeit erst 20 Jahre alt war, findet der Prozess vor der Jugendstrafkammer statt.

Auftakt des Prozesses vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Braunschweig im Oktober vergangenen Jahres.
Auftakt des Prozesses vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Braunschweig im Oktober vergangenen Jahres. © dpa | Moritz Frankenberg

Der Jüngste ist im Gericht bisher recht ruhig gewesen, er beantwortete Nachfragen zu seiner Person und beteiligte sich nicht an den zuweilen aufbrausenden Ausbrüchen seiner Mitangeklagten. Es ist der zweite Prozess für den 21-Jährigen. Mit 19 Jahren stand er wegen des Besitzes und Handels mit Marihuana vor dem Amtsgericht Braunschweig. Da das Gericht damals keine schädliche Neigung feststellte, wurde er nicht zu einer Strafe verurteilt, allerdings mit einer Bewährungszeit von zwei Jahren versehen – gut einen Monat vor dem Vorfall auf der Luisenstraße.

Seit seinem 16. Lebensjahr bis zur Inhaftierung im vergangenen Jahr, so ein Jugendgerichtshelfer, habe der Jüngste Marihuana genommen. Unter anderem durch eine Entwicklungsverzögerung, eine enge Anbindung ans Elternhaus, empfahl der Jugendgerichtshelfer bei einer etwaigen Straße Jugendstrafrecht anzuwenden. Eine Strafe sei zudem bei einer engmaschigen Kontrolle zur Bewährung auszusetzen. Der Angeklagte habe angedeutet, ein neues soziales Umfeld anzustreben.

Zwei Brüder sitzen ebenfalls auf der Anklagebank. Beiden droht wegen vorangehender Verurteilungen seit 2019 die Abschiebung in die Türkei. Einer von ihnen ist mit 32 Jahren der Älteste der Angeklagten. Sein Bruder ist 25 Jahre alt. Sie sind zwei von insgesamt 18 Kindern, die ihr Vater mit zwei Frauen zeugte. Der Jüngere von beiden ist bisher der einzige, der zu seinen persönlichen Verhältnissen keine Angaben machte. Am ersten Prozesstag zeigte er das Victory-Zeichen in die Zuschauerränge, im Verlauf des Prozesses wurde er auch laut und beleidigend. Er ist bisher der einzige, der sich gegenüber der Richterin dafür entschuldigt hat. Über seine Anwälte ließ er einen Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin einbringen, der später abgewiesen wurde. Bevor er sich der Polizei stellte, war er geflohen.

Sein Bruder hatte sich dem Befangenheitsantrag angeschlossen. Er gewährte Anfang März Einblick in sein Leben. Mit drei Jahren kam die Familie nach Deutschland, es folgten zahlreiche Wohnortwechsel. Der Versuch, den Hauptschulabschluss zu machen, scheiterte. Er schlug vor Jahren einen Angehörigen der auch in diesem Prozess gegnerischen Seite krankenhausreif. Seiner Abschiebung war er bisher entgangen, weil er zunächst in einer Drogentherapie steckte, dann in Untersuchungshaft. Er hat eine 15-jährige Tochter, die bei ihrer Mutter lebt.

Der 26-Jährige hat Schwierigkeiten, den Prozess ruhig zu verfolgen. Er hibbelt auf seinem Stuhl, er lacht, schlägt die Hände vors Gesicht, und brach schon lautstark in Beleidigungen aus. Dabei scheute er auch nicht davor zurück, die Vorsitzende Richterin als Fotze zu bezeichnen. Mit 15 Jahren probierte er zum ersten Mal Marihuana. Vier bis fünf Gramm waren es schließlich täglich, am Wochenende kamen Kokain und Alkohol hinzu. Mit 18 Jahren saß er zum ersten Mal im Gefängnis, nahm auch in dieser Zeit weiter Drogen.

Der fünfte Angeklagte ist ebenfalls 26 Jahre alt. Er ist Vater einer Tochter im Kindergartenalter. Sie lebt bei ihrer Mutter. Auch der Angeklagte lebt mit seinen vier Geschwistern noch bei seiner Mutter. Er wurde bereits wegen versuchten Betrugs verurteilt, ein Urteil wegen gefährlicher Körperverletzung ist noch nicht rechtskräftig. Er wurde als Kind kurdischer Eltern in Deutschland geboren und verbrachte seine ersten drei

Ursprünglich waren 20 Verhandlungstermine angesetzt, nun sind es mehr als 60. Der Prozess wird sich bis in den Sommer ziehen.
Ursprünglich waren 20 Verhandlungstermine angesetzt, nun sind es mehr als 60. Der Prozess wird sich bis in den Sommer ziehen. © dpa | Moritz Frankenberg

Lebensjahre in einem Asylbewerberheim. Es folgten zahlreiche Wohnortwechsel. Er hat den Hauptschulabschluss, drei Ausbildungsversuche scheiterten. „Geld war nie ein Problem, weil die Familie ihn immer getragen hat“, sagte seine Bewährungshelferin. Was er brauchte, habe er bekommen.

Wie geht es weiter?

Weitere Verhandlungstermine sind bis Ende Juni anberaumt.

Neben dem laufenden Prozess gibt es ein Parallelverfahren in gleicher Sache, in dem sich vier weitere Männer zwischen 24 und 27 Jahren vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Braunschweig verantworten müssen. Alle haben die deutsche Staatsbürgerschaft, einer von ihnen wurde in der Türkei geboren, zwei in Polen, einer in Deutschland. Einer der Angeklagten sitzt in Untersuchungshaft. Der Tatvorwurf lautet ebenfalls: Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs, versuchter Totschlag und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Für zwei der vier könnte die Anklage allerdings nur versuchte gefährliche Körperverletzung lauten. Warum, das blieb zunächst offen. Niemand der vier soll eine Schusswaffe geführt haben, allerdings sollen sie sich unter anderem mit Knüppeln und Macheten bewaffnet und sowohl auf ein Auto eingeschlagen haben als auch auf Mitglieder einer verfeindeten Gruppe losgegangen sein.

Es sind 16 Termine bis Ende Mai angesetzt.

Hintergrund zum Schießerei-Prozess in Braunschweig

Nach einer Schießerei im Westlichen Ringgebiet am 17. April 2021 mussten sich bereits neun Männer in zwei Prozessen vor dem Landgericht Braunschweig verantworten. Rund ein Jahr beschäftigten diese Fälle das Landgericht. Nun steht ein weiterer Verdächtiger vor Gericht. Er soll die acht Schüsse auf offener Straße abgegeben haben.

Alle Bereicht zur Schießerei und zu den anschließenden Prozessen finden Sie hier: