Zu wenig, zu spät: Die Zins-Entscheidung der Europäischen Zentralbank ist für die Bürger kein Grund zur Entwarnung, meint unser Autor.

Endlich ist die Europäische Zentralbank aufgewacht. Nachdem die Inflation in der Eurozone den Rekordstand von 8,1 Prozent erreicht hat, besinnen sich die Währungshüter nach langem Zögern doch noch auf ihre Aufgabe, für stabile Preise zu sorgen. Wenigstens die Basis ist gelegt für eine Zinswende, die eine jahrelange Politik von Null- und Negativ-Zinsen beendet.

Damit verlässt die EZB ihren Irrweg: Die Inflation ist also doch kein vorübergehendes Problem, das sich einfach aussitzen lässt. Aber die Antwort der Notenbank wird dieser Erkenntnis nicht gerecht. Nun bloß die Anleihenkäufe zu beenden und dann im Juli sehr vorsichtig den Leitzins zu erhöhen, reicht nicht: Die EZB tut zu wenig, zu spät.

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Mindestens ein Jahr lang hat die Notenbank die Entwicklung schöngeredet. Schon vor Jahresfrist hatte sich ein brisantes Gemisch von preistreibenden Faktoren gebildet: ein durch staatliche Programme befeuerter Nachfrageschub nach der Corona-Pandemie, ein Energiehunger, der die Preise für Öl und Gas in die Höhe treibt, dazu dauerhaft gestörte Lieferketten.

EZB ist bequem im Eurokrisen-Modus geblieben

Bereits damals hätte die EZB, deren Inflationsziel bei zwei Prozent liegt, handeln und die Leitzinsen erhöhen müssen. Sie tat es nicht, weil ein Ende ihrer extrem lockeren Geldpolitik hoch verschuldeten Ländern in Südeuropa Probleme bereiten könnte. Statt rechtzeitig die Zügel anzuziehen, ist die EZB bequem im Eurokrisen-Modus geblieben, hat die Schuldensünder weiter mit billigem Geld eingelullt und viele Milliarden Euro in die Märkte gepumpt. Sie handelt erst jetzt, weil der Ukraine-Krieg die Energie- und Nahrungsmittelpreise derart explodieren lässt, dass alle Ausreden nicht mehr verfangen.

Christian Kerl, EU-Korrespondent.
Christian Kerl, EU-Korrespondent. © Privat

Nun aber wäre entschlossenes Handeln überfällig. Doch die EZB belässt es halbherzig bei Trippelschritten. Ein Fehler: Würde die Notenbank die Zinsen spürbar erhöhen, wie es die USA vormachen, wäre dies ein klares Signal an die Finanzmärkte. Sicher, risikolos ist das nicht: Jeder Zinsschritt ist zwar gut gegen die Inflation, aber schlecht für die Konjunktur. Aber die viel größere Gefahr liegt in anhaltender Zögerlichkeit: Wenn sich der Preisanstieg verstetigt, werden die Gewerkschaften zum Ausgleich deutlich höhere Löhne fordern müssen – was neue Preissteigerungen auslösen dürfte und früher oder später die berüchtigte Lohn-Preis-Spirale in Gang setzt. Im Herbst stehen in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst große Tarifrunden an. Wie lange können die Gewerkschaften in dieser Lage eine maßvolle Tarifpolitik durchhalten, die die Arbeitnehmer mit massiven Reallohn-Verlusten bezahlen?

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Solange die EZB zögert, muss die Politik mit ihren Mitteln eingreifen und für eine verlässliche Entlastung der Bürger vor allem bei den Energiepreisen sorgen. Aber das ist kein Ersatz für nachhaltige Inflationsbekämpfung. Die EZB kann die Energiepreise selbst nicht senken. Aber weil eine Zinserhöhung mit der Aufwertung des Euro einhergeht, würde entschlossenes Handeln die in Dollar abgerechneten Energieimporte durchaus verbilligen. Vor allem aber kann die Notenbank verhindern, dass sich eine hohe Inflation festfrisst. Das gelingt nicht mit vorsichtigen Tastbewegungen.

Die lange Ignoranz der Frankfurter Währungshüter hat bei den Bürgern, die die Rechnung bezahlen, schon viel Vertrauen gekostet. Wenn die Zentralbank die Menschen nicht noch auf die Barrikaden treiben will, braucht sie endlich den Willen zum konsequenten Kampf gegen die Inflation.

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