Kiew. Iryna Wenediktowa stand eine glänzende Karriere als Jura-Professorin an der Uni Charkiw bevor. Nun soll sie Kriegsverbrechen aufklären.

Recht muss Recht bleiben. Auch im Krieg. Von außen ist nicht zu erkennen, wie sehr dieses Prinzip Iryna Wenediktowa im Inneren schmerzt. Die 43-Jährige hält aber eisern daran fest. „Wir bekommen täglich 100 bis 150 Fälle mutmaßlicher russischer Kriegsverbrechen auf den Tisch“, erklärt die Generalstaatsanwältin der Ukraine. Nach drei Monaten Krieg ergibt das eine fünfstellige Zahl.

Die Statistik ist aber nur das eine. Etwas ganz anderes sind die menschlichen Schicksale. Wenediktowa berichtet von vergewaltigten Frauen, gefolterten Männern, verschleppten Alten und getöteten Kindern. Doch statt sich von Rachegelüsten mitreißen zu lassen, sagt sie nüchtern: „Es ist schwierig, all das auszuermitteln.“ Denn zu den Tatorten haben Wenediktowas Leute oft keinen Zugang, weil dort die feindliche Armee steht.

Namen wie Butscha sind längst zu Synonymen des russischen Besatzungsterrors geworden

Noch. Das ist die große Hoffnung, die fast alle Menschen in der Ukraine haben. Dass die russischen Truppen bald geschlagen abziehen. So wie Ende März aus der Region um Kiew. Auch wenn sich dann erst das ganze Ausmaß des Grauens offenbart. Namen wie Butscha und Borodjanka sind ja längst zu Synonymen des russischen Besatzungsterrors geworden.

Anfang Mai begleitet Wenediktowa die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei einem Besuch in Butscha. Man sehe Spielplätze, Supermärkte und Menschen, die zur Arbeit gingen, sagt der Gast aus Berlin. „Und dann sieht man die schlimmsten Spuren von Verbrechen genau daneben. Wir sind es den Opfern schuldig, dass wir die Täter zur Verantwortung ziehen.“

Der 21-jährige russische Soldat Wadim S. soll ein Auto gestohlen und einen Zeugen getötet haben

Doch das wird dauern. Es ist ja kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, dass Wenediktowa seit Mittwoch einen ersten Prozess wegen Kriegsverbrechen führen kann. Und dann ist der Fall auch noch vergleichsweise unspektakulär. Der 21-jährige russische Soldat Wadim S. soll im Februar in einem Dorf bei Charkiw ein Auto gestohlen und einen Zeugen getötethaben. Vor Gericht bekennt er sich schuldig.

Das könnte ihm helfen. Zumal Wenediktowa noch weitere mildernde Umstände im Blick hat. Wadim S. wollte mit dem Auto fliehen, als seine Einheit unter Feuer geriet. Außerdem war er nicht allein. Er schoss wohl auf Befehl eines ranghöheren Soldaten. Vor Gericht bittet S. um Vergebung. Dennoch drohen ihm 15 Jahre Haft. Immerhin. Das Wort schwingt mit, aber Wenediktowa sagt es nicht.

Funktionieren kann das nur, wenn man die eigenen Gefühle ausschalten kann

Wie hält man es als Chefanklägerin aus, wenn sich im eigenen Land die Berichte über Kriegsgräuel häufen - aber vor Gericht bringen kann man erst einmal nur einen jungen Mann, der selbst noch ein halbes Kind ist? Funktionieren kann das eigentlich nur, wenn man die eigenen Gefühle irgendwie ausschalten kann. Zumindest zeitweise. Solange man im Dienst höherer rechtlicher und moralischer Grundsätze steht.

Genau so klingt es, wenn Wenediktowa in Interviews erklärt: „Beweissicherung ist unsere wichtigste Aufgabe.“ Nur so ließen sich einwandfreie Prozesse führen und gerechte Urteile fällen. Fast wirkt es, als wäre Justitia persönlich am Werk. Die mythische Göttin der Gerechtigkeit, die das Schwert in der einen Hand trägt, in der anderen aber die Waage, während die Augen verbunden sind.

Der Hauptschuldige sitzt im Kreml: Russlands Präsident Wladimir Putin

Wenediktowa will das Schwert vor allem gegen die Hauptschuldigen führen, die im Kreml sitzen. Auch gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Und genau deshalb ist die Generalstaatsanwältin so akribisch. Denn ohne Beweise kann es keinen Schuldspruch geben. Im Zweifel für den Angeklagten. So sieht Wenediktowa das, seit sie im Jahr 2000 ihr Jurastudium abgeschlossen hat.

In ihrer Geburtsstadt Charkiw, wo die Tochter eines Polizeimajors und einer Anwältin an der Universität Karriere macht. 2014, als Russland im Osten der Ukraine einen Krieg entfesselt, wird Wenediktowa Professorin für Zivilrecht. Doch dann klopft 2018 Wolodymyr Selenskyj an. Der heutige Präsident sucht im heraufziehenden Wahlkampf eine rechtspolitische Beraterin.

Die Chefanklägerin will den „Fall Maidan“ neu aufrollen

Selenskyj überzeugt Wenediktowa, dass er es ernst meint mit dem Kampf gegen Korruption. Die zweifache Mutter stellt das Privatleben hintan. Sie kandidiert 2019 für das Parlament, wird Abgeordnete und bald darauf als erste Frau zur obersten Staatsanwältin des Landes ernannt. Und Wenediktowa macht früh klar, wie sie ihre Aufgabe zu erfüllen gedenkt: unbestechlich, im Dienst des Rechts.

So schafft die neue Chefanklägerin eine eigene Einheit, um den „Fall Maidan“ neu aufzurollen. Denn bis heute ist nicht vollständig geklärt, was während der Revolution auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz 2014 genau geschah, als Scharfschützen das Feuer eröffneten. Mehr als 100 Menschen starben damals. Doch wer waren die Täter?

Bei einigen hat Wenediktowa den Ruf einer prorussischen Revanchistin

Einige der Todesschützen sollen später aufseiten der ukrainischen Armee bei der sogenannten Anti-Terror-Operation im Donbass gekämpft haben. Dass Wenediktowa die Sache rückhaltlos aufklären will, bringt ihr bei einigen den Ruf einer prorussischen Revanchistin ein. Die Kritik wächst, als die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko erhebt.

Denn der milliardenschwere Oligarch ist nicht nur Ex-Präsident, sondern seit seiner Abwahl auch Oppositionsführer. Da liegt der Vorwurf nah, dass Selenskyj die Justiz zu instrumentalisieren versucht, um einen politischen Gegner auszuschalten. Sein wichtigstes Werkzeug wäre demnach Wenediktowa.

Ex-Präsident Petro Poroschenko wirft die Generalstaatsanwältin Hochverrat vor

Doch so einfach ist die Sache nicht. Es gibt durchaus belastbares Material gegen Poroschenko. Der damalige Präsident soll in den Jahren 2014/15, also direkt nach der russischen Krim-Annexion, den ukrainischen Kohlehandel so umgelenkt haben, dass davon ausgerechnet die moskautreuen Separatisten im Donbass profitierten.

Ein Deal unter Oligarchen, zulasten des ukrainischen Staates. Hochverrat, lautet deshalb Wenediktowas Anklage. Ist das politisierte Justiz oder gerade das Gegenteil? Man kann es ja auch so sehen: Da klagt eine Staatsanwältin ohne Rücksicht auf Macht und Einfluss einen Ex-Präsidenten an, der womöglich Schuld auf sich geladen hat.

Wurden in der Ost- und Südukraine tatsächlich Hunderttausende Menschen verschleppt?

Von all dem ist allerdings heute, mitten im Krieg, kaum noch die Rede. Auf die Frage nach Poroschenko winkt Wenediktowa ab. „Der läuft uns nicht weg“, sagt sie. Die Staatsanwältin hat anderes zu tun. Wichtigeres.

Sie will zum Beispiel klären, ob die russische Armee aus den besetzten Gebieten in der Ost- und Südukraine tatsächlich Hunderttausende Menschen verschleppt und sie in Säuberungslagern inhaftiert. Wird sie danach gefragt, sagt sie: „Es werden öffentlich sehr hohe Zahlen solcher Fälle genannt. Wir sind da vorsichtig. Für uns ist wichtig, dass wir jeden Fall einzeln betrachten, um Verbrechen beweisen zu können. Damit die Gerechtigkeit siegt.“

Dieser Text erschien zuerst auf www.waz.de