Buchholz. Beim Projekt „Klang und Leben“ versuchen Musiker in Altenheimen die Erinnerung von Senioren zu wecken. Neben Tanz und Gesang ist auch Flirten erlaubt.

An diesem Nachmittag hat sich das Altersheim in ein Konzerthaus verwandelt. Im Erdgeschoss formen Stuhlreihen kleine Halbkreise. Im Zentrum stehen vier Männer zwischen Gitarren, Mikrofon, Cajon und einem uralten schwarzen Klavier mit Kerzenhaltern. Die hannoversche Band „Klang und Leben“ ist ins Kursana Domizil nach Buchholz (Landkreis Harburg) gekommen. Mit vertrauten Melodien wollen die Musiker Demenzkranken bei Gesangstunden alte Erinnerungen wecken und so deren Lebensgefühl verbessern.

Ihre Formel ist einfach: Musik an, die Laune steigt. „Kann denn Liebe Sünde sein?“, schmachtet Oliver Perau ins Mikrofon, Dutzende hören zu. Helga wippt. Irmgard klatscht, und die Perlenkette schunkelt über dem Rollkragenpullover. Der Mann mit Gitarre, Graziano Zampolin, hält ein Modellauto in die Luft - ein roter VW-Käfer. „Jetzt fahren wir los nach Italien, mit einem Gefährt, das sie alle kennen.“ Erst eine Wellenbewegung mit dem Auto vor den Augen der Senioren, dann eine kleine Vespa zur Hand, „über die Alpen, nach Genua, über Rom, zur Insel mit dem Eis, zu den „Capri-Fischern!““

Das Signal für die Band! Rainer Schumann klopft den Rhythmus. Die Akkorde wackeln über die Tasten von Pianist Andreas Meyer. Die Hüften von Sänger Perau tun’s ihnen gleich: links, rechts, links, rechts. Helga tupft am linken Auge, faltet ihr Taschentuch im Schoß zu einem kleinen Quadrat, „so schön!“. Ganz hinten, über einen Rollator gebeugt, murmelt ein Greis die Zeilen leise mit, während seine Nachbarin, leicht zum Takt versetzt, eine Faust ballt und öffnet. Ein Lied später tänzelt Zampolin mit der 85-jährigen Hannelore in vorsichtigen Schritten zu „Quando, quando, quando“ im Kreis.

„Mit dem passenden Lied erinnern sie sich an ein Leben, in dem es ihnen gut ging. Die Stücke geben älteren Menschen etwas Geborgenes, Vertrautes wieder. Es tut einfach nur gut“, sagt Rainer Schumann. Und auch bei Hannelore blitzen Bilder ihrer Jugend auf: „Als junges Mädchen hat das angefangen, da fing überall die Musik an, und wir, wir gingen immer los“, sagt sie mit leicht aufgeregter Stimme.

„Musik kann biografische Erinnerung wecken, ältere Menschen können damit besondere Erlebnisse in Verbindung bringen“, erklärt der Sprecher der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Hans-Jürgen Freter. Erstaunlich sei etwa, dass ältere Leute nicht wüssten, was sie zum Frühstück gegessen haben, sie sich aber strophenweise an Lieder erinnern könnten.

Deutschlandweit sind laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft rund 1,5 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. In Niedersachsen leben mehr als 140 000 von ihnen, in Bremen rund 13 000. Etwa 10 000 Betreuer in Niedersachsen helfen Erkrankten laut Sozialministerium ehrenamtlich im Alltag oder in Projekten wie „Klang und Leben“.

„Es geht um die Lebensqualität der Menschen, und darum, sie nicht alleinzulassen. Therapien mit Musik, Bewegung und Tanzen sind auf jeden Fall ein Weg, um Erkrankte geistig und körperlich anzuregen und so zu ihren Gefühlen vordringen zu können“, sagt Freter.

Der hannoversche Musikprofessor Eckart Altenmüller hat untersucht, wie sich die Gesangsstunden von „Klang und Leben“ auf das Wohlbefinden der Senioren auswirken. „Bei bislang rund 50 Versuchspersonen haben wir große Effekte in der Stimmung und Motorik festgestellt.“ Vom Pflegepersonal ließ er in Fragebögen das Verhalten der Bewohner festhalten.

„Demenz wird immer als etwas Negatives dargestellt“, sagt Zampolin, der Gitarrist und ausgebildete Demenzcoach, zu seinem Publikum, „wir haben da eine ganz andere Erfahrung gemacht. Musik statt Pille!“, sagt er und reckt die Faust zur Decke. Jubel der Pflegerinnen vorne. Die säuselnden Klänge von „Bel‘ Ami“ hinten. Und die Hüften, sie gehen wieder links, rechts, links, rechts. dpa