Frankfurt/Main. Mit niedrigen Zinsen finanzieren Firmen teure Übernahmen. Die Folge: Zukunftswetten verdrängen in den Bilanzen harte Unternehmenswerte.

An den Börsen wachsen die Sorgen vor Kursblasen. Dabei gibt es drei große Risiken, die alle von der Geldpolitik ausgehen: Wenn die Zinsen künftig einmal nicht mehr so niedrig sind, dürften auch bei den Unternehmen im Deutschen Aktienindex Dax Finanzierungspläne für teure Übernahmen platzen. Oder diese Übernahmen stellen sich als nicht so werthaltig heraus wie gedacht. Oder die neuen teuren Töchter liefern operativ nicht das, was bei der Preis- und entsprechend der Schuldenkalkulation eingeplant war. Dann kann es eng werden. Denn auch wenn die Erträge schmelzen: Die aufgehäuften Schulden bleiben.

Und die Verbindlichkeiten der Unternehmen sind alles andere als gering. Allein die Dax-Konzerne (ohne Banken und Versicherungen) hatten voriges Jahr 611 Milliarden Euro Schulden in den Büchern stehen. Kein Wunder: Gibt es über Kredit oder Anleihen doch sehr billiges Geld, zuweilen gar unter einem Prozent. Unternehmen kaufen im Zweifel sogar Aktien zurück. Sie wollen Dividende sparen. So schmälern sie natürlich zugleich den haftenden Risikopuffer: „Es kommt zum Knall, wenn sich der Zins dreht“, sagt Robert Halver, der Analysechef der Baader Bank.

Höherer Kaufpreis

Aber er glaubt nicht an eine schnelle oder gar starke Zinswende. Doch das Risiko ist da. Das „Handelsblatt“ spricht von „Bilanzdoping“ und beziffert den „Bluff“ in den Bilanzen der Dax-Konzerne auf 267 Milliarden Euro. Das ist der ausgewiesene Goodwill in den Unternehmensbilanzen. Diese Größe ergibt sich, wenn ein Unternehmen gekauft wird, dessen einzelne Werte wie Maschinen, Immobilien, Patente und Kundenkontakte bewertet werden, diese „harten“ Werte aber nicht den meist deutlich höheren Kaufpreis erreichen.

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    In der Differenz von harten Vermögensgegenständen zu Kaufpreis liegt die Hoffnung des Käufers, die erworbene Firma mit seiner vorhandenen so kombinieren zu können, dass ein Mehrwert entsteht: Es liegt also ein Hoffnungswert im Goodwill, und wenn die Hoffnung nicht eintritt, wenn etwa Patente wegen einer besseren Erfindung plötzlich wertlos werden, drohen massive Abschreibungen.

    Teure Übernahmen

    „Es drohen Verluste, im Extremfall sogar die Insolvenz, wenn ein Unternehmen weniger Eigenkapital als Goodwill ausweist und gezwungen wäre, diesen komplett abzuschreiben“, sagte Kai Lehmann, der Bilanzexperte des Vermögensverwalters Flossbach & Storch dem „Handelsblatt“. Nicht zuletzt wegen solcher Risiken wollen Aktionäre künftig nicht mehr von der Entscheidung über teure Übernahmen ausgeschlossen sein. Der Stimmrechtsberater Hermes EOS fordert notfalls neue Gesetze, um diese Mitsprache der Eigentümer sicherzustellen.

    „Diese Notwendigkeit zwingt das Management dazu, Investoren und andere Interessengruppen von einer großen Transaktion zu überzeugen, und fördert damit die Disziplin – nicht zuletzt was die dafür gezahlten Preisaufschläge betrifft“, sagte Hermes-EOS-Chef Hans-Christoph Hirt. Anlass seiner Kritik war konkret die geplante 60 Milliarden Euro teure Übernahme des amerikanischen Saatgutkonzerns Monsanto durch den Leverkusener Bayer-Konzern. Auf der Hauptversammlung von Bayer Ende April hatten die Aktionäre nur ein Fragerecht.

    Klagefreudige Querulanten

    Zustimmen mussten und durften sie dem Plan nicht – das Management hatte wohl auch Sorge, von klagefreudigen Querulanten unter den Aktionären an seiner Strategie gehindert zu werden. Doch Bayer war schon vor dem angekündigten Geschäft mit rund 17 Milliarden Euro verschuldet und hat bei Monsanto einen Aufschlag von 44 Prozent auf den letzten Börsenkurs Monsantos vor dem Deal akzeptiert. Heiße Luft oder wieder reinholbar?

    Die Frage muss man auch bei anderen Unternehmen stellen. Bayer hat bis jetzt immer noch mehr Eigenkapital als Goodwill in den Büchern. Aber bei sieben anderen Dax-Unternehmen sieht das anders aus. Da scheinen die Hoffnungswerte höher als das Eigenkapital, hat das „Handelsblatt“ recherchiert: bei RWE, ThyssenKrupp, Eon, ProSiebenSat 1, bei Merck, der Deutschen Post und den beiden Fresenius-Unternehmen, der Mutter Fresenius SE und der Tochter FMC.

    Hohe Risiken

    Ziemlich düster sieht es bei RWE aus. Das Unternehmen in seiner jetzigen Form, also als Betreiber der Kohle- und Gaskraftwerke und des Stromhandels, wird an der Börse derzeit mit knapp zwölf Milliarden Euro bewertet. Die auf die neuen Energien ausgerichtete Tochter Innogy kommt auf 20,5 Milliarden Euro.

    Da noch knapp 77 Prozent der Innogy-Aktien RWE gehören, was einem Börsenwert von 15,7 Milliarden Euro entspricht, ist klar: RWE selbst hat mit seinen Kraftwerken einen negativen Marktwert von rund 3,7 Milliarden Euro – positiv wird er nur durch die Beteiligung an Innogy. In RWE stecken also hohe Risiken. Die drücken sich auch in dem ausgewiesenen „Goodwill“ von 11,7 Milliarden Euro aus, der noch an einst für gutes Geld erworbenen Kraftwerken in Europa hängt. Die Tochter Innogy wird lange hohe Dividenden ausschütten, die Mutter also alimentieren müssen, bevor bei RWE Entwarnung gegeben werden kann.

    Risikoreiche Bilanzqualität

    Nur etwas mehr Hoffnung verbreitet ThyssenKrupp. Dessen ausgewiesener Goodwill von 3,8 Milliarden Euro übersteigt das knappe Eigenkapital von 2,6 Milliarden Euro. Immerhin enthält der Goodwill kaum mehr die verlustreichen und abgestoßenen Stahlwerke in Amerika und Brasilien, sondern ein paar Zukäufe im Aufzug- und Rüstungsgeschäft, also eher zukunftsträchtiges Geschäft. Seine gleichwohl relativ risikoreiche Bilanzqualität entspringt bei ThyssenKrupp vor allem dem niedrigen Eigenkapital, Folge der acht Milliarden Euro, die in Amerika und Brasilen verloren gingen.

    Freilich fühlen sich manche Unternehmen mit hohen Schulden geradezu wohl. Der Gesundheitskonzern Fresenius etwa. Ständige Übernahmen gehören bei ihm und seinen Töchtern, auch beim ebenfalls börsennotierten Dialysekonzern Fresenius Medical Care, sozusagen zum Geschäftsmodell. Die Bad Homburger haben im Herbst 2016 für 5,8 Milliarden Euro den spanischen Klinikbetreiber Quironsalud erworben und dieses Jahr für 4,4 Milliarden Euro den US-Generikahersteller Akorn. Die Anleihen des Konzerns, obwohl auf Ramschniveau, gehen weg wie warme Semmeln. Hier scheint das „Bilanzdoping“ unter Kontrolle. Jedenfalls bisher.