Berlin. Dieter Weinand ist bei Bayer für das wichtige Pharmageschäft zuständig. Er redet über Hightech-Medizin und die Übernahme von Monsanto.

Aus seinem Büro im 14. Stock der Bayer-Pharma-Zentrale geht der Blick weit über Berlin. Und Weitblick braucht Dieter Weinand, Bayer-Vorstand und Chef der Pharmasparte, auch. Sein Geschäft ist forschungsintensiv, teuer und es dauert zehn Jahre, bis aus einem Wirkstoff ein marktfähiges Medikament wird. Wie also ist die Lage?

Sie haben vor zweieinhalb Jahren bei Bayer begonnen. Was haben Sie verändert?

Dieter Weinand Als ich kam, war die Pharma-Division von Bayer in einer Phase starken Wachstums. Das verleitet dazu, eine überschwängliche Atmosphäre zu erzeugen. Ich war etwas besorgt, weil ich ähnliches in anderen Unternehmen erlebt hatte. Großes Wachstum mit großen Marken, aber wir hatten insgesamt ein zu breites Angebot. In den meisten Unternehmen stehen grob drei bis vier Produkte für 65 bis 70 Prozent des Geschäfts, bei Bayer waren es etwa zehn Produkte, die für 60 bis 65 Prozent des Umsatzes sorgten. Da neigt man dazu, ein bisschen Kraft hinter alles zu setzen, was bedeutet, dass man bei allem zu wenig investiert. Wir mussten uns fokussieren. Also bauten wir unsere Organisation um und konzentrierten uns auf die Kernmarken. So bekamen wir Geld frei, das wir in Forschung und Entwicklung stecken konnten. In den vergangenen drei Jahren haben wir die Forschungsausgaben um fast eine Milliarde Euro erhöht.

Wie hoch sind die derzeit?

Weinand Über zwei Milliarden Euro alleine für verschreibungspflichtige Medikamente. Das bedeutet in diesem Jahr eine Steigerung um circa 350 Millionen Euro. So konnten wir in den vergangenen Jahren unser Entwicklungsportfolio auffüllen. Wir haben derzeit rund 50 Projekte in der klinischen Entwicklung, darunter sehr vielversprechende in der letzten Phase vor der Zulassung.

Zum Beispiel?

Weinand Im Bereich der Herz-Kreislauferkrankungen haben wir zum Beispiel Finerenone, das wir für die Behandlung diabetischer Nierenerkrankungen entwickeln und Vericiguat gegen chronische Herzinsuffizienz. Beispiele von Entwicklungskandidaten im Bereich von Krebsleiden sind Copanlisib gegen Lymphome, Anetumab Ravtansine und ODM-201 gegen verschiedene Krebsarten.

Eines der Onkologie-Produkte, die bereits am Markt sind, heißt Xofigo. Das greift Krebs mit radioaktiven Strahlen an. Wie?

Weinand Xofigo nutzt die im Vergleich zu Gamma- und Beta-Strahlung schnell zerfallende Alpha-Strahlung. Radium 223, das in Xofigo eingebaut ist, imitiert Kalzium. Krebszellen wuchern sehr, sehr schnell, vor allem Krebszellen im Knochen. Kalzium wird vom Knochen aufgenommen, gerade in Bereichen mit starkem Knochenumbau. Das bedeutet bei Xofigo: Radium 223 wird vorrangig und schnell im Knochen angereichert, wo der Krebs sitzt und getötet werden kann, und praktisch nirgendwo sonst im Körper.

Sind Hightech-Medikamente nicht gefährlicher als die klassische Pille?

Weinand Sehen Sie es mal so: In der Vergangenheit wurde ein eher breiter Ansatz gewählt, um Krebs zu behandeln: Krebszellen vermehren sich schneller als normale Zellen und nehmen deshalb mehr Nähr- und chemische Stoffe auf. Also wurde ein Medikament gegeben, das sich im gesamten Körper ausbreitete und sich hoffentlich in den Zellen ansammelt, die sich schneller vermehren – und so die Krebszellen tötet. Allerdings vermehren sich auch Haarzellen und die Zellen, die den Magen auskleiden, schnell. Die trifft es dann auch. Also musste möglichst noch zielgerichteter vorgegangen werden. Es galt, einzelne Enzyme in der Krebszelle zu blockieren, um diese abzuschalten. Medikamente können bereits spezifische Merkmale auf der Oberfläche einer Krebszelle erkennen und diese gezielt aufspüren. Außerdem kann man heute das Immunsystem des Menschen stärken, damit es die Krebszellen selbst ausschaltet. Und jetzt also Xofigo, das ein besonderes Element nachahmt.

Was kommt noch?

Weinand Wir arbeiten an einer sehr interessanten Plattform-Technologie auf Thorium-Basis, die zielgerichtet Krebszellen ansteuert. Das Thorium ist an einen spezifischen Antikörper gebunden, der wie ein Schlüssel zum Schloss eines spezifischen Antigens der Krebszelle passt. Das Antigen zieht dann wie ein Magnet den Antikörper an, der das Thorium zur Krebszelle bringt. Thorium gibt dann vor Ort energiereiche Alphateilchen ab, die den Krebs töten. Ein weiteres wichtiges Projekt ist Anetumab Ravtansine.

Wogegen hilft es?

Weinand Wir testen es bei Brustfell- und Eierstockkrebs. Normalerweise bleiben einem mit dieser Art Krebs nur noch wenige Monate zu leben. Und man stirbt unter Umständen einen furchtbaren Tod. In der ersten klinischen Studie gab es Patienten, die mehr als drei Jahre behandelt wurden. Wir schauen jetzt, ob sich noch weitere Krebsarten damit behandeln lassen.

Ist das Medikament in der dritten klinischen Phase, also kurz vor Markteinführung?

Weinand Bei Krebs läuft die Medikamentenzulassung anders. Normalerweise testet man in Phase eins bei gesunden Probanden die Verträglichkeit, in Phase zwei die Wirksamkeit und Sicherheit in Abhängigkeit der Dosis bei einer geringen Anzahl Patienten. Dann geht es in Phase drei mit ihren klinischen Tests auf Wirksamkeit und Sicherheit bei einer größeren Anzahl von Patienten, an deren Ende die Zulassung steht. Bei Krebs werden die Medikamente nicht an gesunden Menschen getestet, aus ethischen Gründen. Den Wirkstoff bekommen Menschen mit fortgeschrittenem Krebs, für die es keine andere Therapie mehr gibt. Wir testen die Medikamente in Phase eins bei diesen Patienten. Und wenn wir sehen, dass das Mittel gegen Krebs wirkt und keine inakzeptablen Nebeneffekte zeigt, bauen wir den Test mit mehr Patienten aus und landen automatisch in Phase zwei. Und wenn die gut läuft, können wir damit beispielsweise in den USA bereits die Zulassung unter der Bedingung weiterer Studien bekommen. Dadurch sollen Patienten möglichst schnell Zugang zu neuen Medikamenten erhalten.

Warum haben die Medikamente solch merkwürdige Namen?

Weinand Der Name des Wirkstoffs hat meist etwas mit der chemischen Struktur oder deren Wirkweise zu tun. Der Markenname, unter dem es verkauft wird, ist nötig, weil der Name des Wirkstoffes meist schwer auszusprechen oder zu merken ist. Viele Namen sind allerdings bereits vergeben oder registriert, also müssen wir uns andere Namen ausdenken.

Mit einem eigenen Team im fünften Stock…

Weinand Tatsächlich denkt jedes Entwicklungsteam bereits über einen Markennamen nach. Die verschiedenen Ideen, auch computergenerierte Namen, werden dann international abgeglichen. Zusätzliche Herausforderung: Der Markenname darf nicht ähnlich wie ein existierender Markenname klingen, damit die Medikamente nicht verwechselt werden.

Die Pharma-Sparte von Bayer steht für rund die Hälfte des LifeSciences-Umsatzes des Unternehmens und 54 Prozent des Vorsteuergewinns. Der Konzern übernimmt voraussichtlich im kommenden Jahr das US-Unternehmen Monsanto. Wie werden sich die Gewichte und der Einfluss zwischen Pharmasparte und Agrarchemie verändern?

Weinand Firmen werden von einem Managementteam geleitet. Es gibt keinen Unterschied zwischen Erica Mann, die das Consumer-Health-Geschäft von Bayer leitet, Liam Condon, der die Agrarsparte lenkt, und mir. Die Monsanto-Übernahme ist eine großartige Gelegenheit für uns. Es passt vom Produktportfolio her und von den Regionen, in denen wir tätig sind. Wo wir schwächer sind, tendiert Monsanto dazu, stärker zu sein und umgekehrt. Es passt einfach sehr gut.

66 Milliarden Dollar sind ein hoher Preis. Welche Folgen hat das für die Pharmasparte? Müssen Sie sparen?

Weinand Das Pharmageschäft ist langfristig, man muss vorausplanen. Es braucht heute rund zehn Jahre und mehr als zwei Milliarden Dollar, um die Zulassung für ein Produkt zu erhalten. Das ist gut doppelt so teuer wie vor zehn Jahren. Wenn man eine solche Entwicklung anschiebt, kann man nicht einfach aufhören. Unser strategischer Plan steht.

Kein Sparprogramm?

Weinand Nein. Wir erhöhen unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung weiter.

Sie haben in den USA gerade ein Gemeinschaftsunternehmen mit Emanuelle Charpentier, derzeit eine der umworbendsten Wissenschaftlerinnen, gestartet. Es geht um Genom-Editing. Was soll daraus entstehen?

Weinand Zunächst: Wo ist die neue Grenze in der Medizinwissenschaft? Da ist zum einen Big Data, also insbesondere die Frage, wie wir große Datenmengen aufbereiten und nutzbar machen. Und da ist zum anderen Genom-Editing, die gezielte Veränderung der DNA. Wenn man fehlerhafte Gene bearbeiten kann, kann man möglicherweise viele Krankheiten bekämpfen. Unser Gemeinschaftsunternehmen Casebia hat hier eine wichtige Rolle.

Das geschieht in den USA, nicht in Deutschland.

Weinand Unsere Hauptforschungszentren liegen in Wuppertal und Berlin. Allein in der Hauptstadt arbeiten rund 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung. Das Gemeinschaftsunternehmen musste entscheiden, wo es am schnellsten starten kann und entsprechende Fachkräfte findet. Und da ist Boston ideal.

In den USA klagen mehr als 14.000 Patienten gegen Bayer wegen der Nebenwirkungen des Schlaganfallmittels Xarelto, Ihrem Spitzenprodukt mit 2,1 Milliarden Umsatz in den ersten neun Monaten. Die üblichen Nebeneffekte eines Hightech-Medikaments?

Weinand Die positive Nutzen-Risiko-Bewertung des Medikaments haben die Arzneimittelbehörden mehrmals bestätigt. Mehr als 23 Millionen Patienten wurden – beziehungsweise werden – behandelt. Wir sind sehr sicher, was Xarelto betrifft.

Was wird das nächste Xarelto?

Weinand Wir wachsen mit unseren bestehenden Produkten kräftig, 28 Prozent waren es im vergangenen Quartal. Und wir arbeiten daran, das Anwendungsgebiet von Xarelto noch zu erweitern. Auch Eylea für Erkrankungen der Retina wächst sehr schnell. Mit Xofigo stehen wir noch am Anfang. Und wir werden in den nächsten Jahren hoffentlich Copanlisib und Anetumab Ravtansine den Patienten zur Verfügung stellen können.