Berlin. Alle sprechen von digitalem Wandel. Doch Millionen Bürger sind nie im Netz oder meiden Onlinebanking. Sie drohen abgehängt zu werden.

Es war ein Wutausbruch: Der Schriftsteller und Dichter Hans Magnus Enzensberger kritisierte im Frühjahr 2016 in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ die Digitalisierung. Und die Sprache derer, die sie vorantreiben. Der 88-Jährige machte deutlich, dass er die Welt nicht mehr versteht und der These widerspricht, die nächste Revolution – die digitale – sei unausweichlich.

Er warnte vor einem Komplott der Konzerne – davor, dass Menschen mittels Technik überwacht, ausgesaugt und für dumm verkauft werden. Schon 2014 hatte Enzensberger kritische Regeln für die digitale Welt formuliert: Eine davon lautete: „Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg.“

Sie haben das Gefühl, überrollt zu werden

Enzensberger ist ein streitbarer Geist, ein umstrittener Teilnehmer an kulturellen und politischen Debatten. Doch sein Gespür für Themen ist anerkannt. Und so drängten sich bei aller Kritik, die seine giftigen Thesen auslösten, zwei Fragen auf: Hat Enzensberger ein ernst zu nehmendes Gefühl beschrieben? Und wie wirkt sich der rasante technische Fortschritt auf ältere Menschen aus? In Deutschland leben mehr als 22 Millionen Bürger, die 60 Jahre oder älter sind – fast 30 Prozent der Bevölkerung, Tendenz steigend.

Ein Wissenschaftler, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, ist Herbert Kubicek. Bis 2011 war er Professor für angewandte Informatik an der Universität Bremen. Jetzt forscht er als wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Digitale Chancen über Nutzen und Nutzung des Internets im Alter. Mitte Juni hat er neue empirische Befunde vorgelegt. Sie sind Ergebnis von Befragungen und Analysen begleiteter Lernprogramme. 300 Senioren in vier deutschen Städten hatten acht Wochen lang daran teilgenommen.

Fast elf Millionen Menschen nie im Netz

Zu Enzensberger und seiner Wutrede will Kubicek sich nicht äußern. Er spricht lieber über die Atmosphäre, die er und sein Team während ihrer Arbeit aufgesogen haben: „Die Menschen haben fast immer von dem Gefühl gesprochen, überrollt zu werden“, sagt Kubicek. Zudem habe es eine diffuse Angst gegeben: Dass die Gesellschaft das analoge Leben austrockne, die Fähigkeiten der Älteren damit entwerte und sie von der Teilhabe abschneide.

Wie relevant diese Sorgen sind, zeigt ein Blick in die Statistik. Im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung nutzen nur wenige ältere Menschen das Internet. Bei den über 70-Jährigen sind laut Statistischem Bundesamt etwa 61 Prozent Offliner. Fast elf Millionen Menschen sind nie im Netz unterwegs. „Trotz diverser Maßnahmen hat sich seit 1999 hier nicht viel getan“, sagt Kubicek.

Die Gründe für das Offlineleben von Senioren basieren dem Forscher zufolge weniger auf Erfahrungen als auf Vorurteilen. „Die meisten sagen, dass das Internet ihnen keinen Nutzen biete oder zu kompliziert sei – ohne es ausprobiert zu haben. Und die, die es ausprobieren, haben Sicherheitsbedenken und Angst vor einem finanziellen Schaden.“ Ältere Nutzer seien daher sehr zurückhaltend. Sie pflegten Kontakte übers Netz, insbesondere mit Kindern und Enkeln, oder spielten online. Um Anwendungen, bei denen sie persönliche Daten angeben müssen – beim Einkauf etwa oder Onlinebanking – machen sie einen Bogen.

Tablet-PCs an Senioreneinrichtungen

Für die Stiftung Digitale Chancen ist sowohl die hohe Zahl der Offliner „ein unterschätztes Problem“ wie auch die Zurückhaltung der Anwender. Sie fordert einen Wandel: „Die politischen Akteure müssen Digitalisierung und Demografie zusammendenken und dabei den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in den Altersgruppen 70 plus Rechnung tragen“, sagt Kubicek.

Was es aus seiner Sicht braucht, hat der Wissenschaftler in einer Publikation zusammengefasst, die Anfang Dezember erscheinen wird. Die Ausleihe von Tablet-PCs über Senioreneinrichtungen habe sich bewährt und könnte künftig auf breiter Basis – so wie beim Projekt Schulen ans Netz – ausgeweitet werden. Aber: „Alle Älteren, die Digitalisierung lernen wollen, brauchen eine differenzierte Unterstützung“, sagt Kubicek.

Anbieter von Netzangeboten müssen umdenken

Dass auch eine alternde Gesellschaft den digitalen Wandel schaffen kann, legen neue Erkenntnisse der Neurowissenschaft nahe. Ben Godde, Professor an der Jacobs University Bremen, hat in mehreren Studien belegt, dass das Gehirn sich auch im Alter noch verändern kann. „Früher hat man gedacht, dass die Entwicklung sich auf die Kindheit begrenzt, aber das stimmt nicht“, sagt er. Das gesunde Gehirn sei ein Netzwerk, das sich immer wieder erneuere und neu verknüpfe. Das aber geschehe je nach Alter oder gesundheitlicher Einschränkungen in verschiedenen Geschwindigkeiten.

Godde plädiert dafür, die Vorteile der Netznutzung expliziter zu betonen und bei Schulungen die besonderen Aspekte des Lernens im Alter zu berücksichtigen. „Lernen hat mit Bewertung und Motivation zu tun“, sagt Godde. Darüber hinaus müssten altersbedingte physische Einschränkungen berücksichtigt werden. „Ältere brauchen geschützte Lernräume, in denen sie nicht mit Jüngeren konkurrieren müssen.“ Und auch viele Anbieter von Netzangeboten müssten umdenken: „Es gibt zum Beispiel wunderbar designte Webseiten, die für Ältere einfach nicht funktionieren. Wenn graue Schrift auf blauem Hintergrund steht, gibt es Wahrnehmungsprobleme“, sagt Godde.

Digitalassistenz kann hilfreich sein

Die Stiftung Digitale Chancen plädiert dafür, nicht nur mehr und besser zu schulen, sondern auch eine ethische Debatte zu beginnen: „Die Gesellschaft muss darüber sprechen, ob es auch ein Recht auf Nicht-mehr-Lernen gibt“, so Kubicek. Viele Senioren fühlten sich gedrängt, bei der Digitalisierung mitzuhalten, obwohl sie sich dies nicht zutrauten. „Sie werden oft als Problemgruppe betrachtet, und das ist ein Problem.“

Eine Regierung, die die Digitalisierung aus wirtschaftlichen Gründen mit Milliarden fördere, dabei aber zehn Millionen ältere Menschen nicht mitnehme, „riskiert, dass sich Millionen abgehängt und nicht ernst genommen fühlen“. Kubicek empfiehlt für Menschen ab einem bestimmten Alter und mit bestimmten Einschränkungen eine Digitalassistenz, die bestimmte Dinge für sie im Netz erledigt. „Man kann doch von einer 90-jährigen Frau nicht mehr verlangen, dass sie noch digitale Kompetenzen erwirbt. Hier muss Hilfe geleistet werden“, findet Kubicek. Zahlen könnte diese zum Beispiel die Pflegeversicherung – „sie zahlt ja auch schon heute Sachleistungen wie Nachbarschaftshilfe bei eingeschränkter Mobilität“.

Herbert Kubicek und Barbara Lippa:
Nutzung und Nutzen des Internet im Alter. Empirische Befunde und Empfehlungen für eine responsive Digitalisierungspolitik, VISTAS Verlag, 19 Euro