Berlin. Die soziale Angststörung ist eine der häufigsten psychischen Krankheiten. Forscher haben untersucht, welche Therapie am besten hilft.

Marvin ist 24 Jahre alt. Er studiert Geschichtswissenschaften. Heute soll er ein Referat halten. Marvins Herz schlägt wie verrückt. Er ist puterrot, der Schweiß rinnt ihm den Rücken hinunter. Marvin hat Angst, sich zu blamieren. „Meine Kommilitonen“, denkt er, „halten mich bestimmt für dumm, schwach und langweilig“. Am Ende ist die Furcht unerträglich – Marvin schwänzt sein Seminar.

„Die soziale Angststörung ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen“, schreiben Prof. Falk Leichsenring und Prof. Frank Leweke von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Allein in Europa gebe es zehn Millionen Betroffene. Die Einschränkungen, die mit der Angst einhergehen, seien oft schwerwiegender als diejenigen bei einer Depression.

Auch Small Talk und das Telefonieren fallen schwer

Leichsenring und Leweke haben ein Jahr lang den aktuellen Forschungsstand aufgearbeitet. Sie wollten herausfinden, was den Betroffenen am besten hilft. Ihre Ergebnisse, die zu einem Großteil auf einer Verbundstudie basieren, die der Bund mit über sechs Millionen Euro gefördert hat, haben die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht.

„Die natürliche, elementare Reaktion auf eine angstauslösende Situation ist Angriffs- oder Fluchtverhalten“, sagt Johannes Peter Wolters, Vorsitzender des Bundesverbandes der Selbsthilfe Soziale Phobie. Für soziale Ängste bedeute dies: Angriff in Form erhöhter Wachsamkeit, Konzentration und Abwehrbereitschaft – und Flucht in Form von Vermeidung. „Was das konkret bedeutet, hängt vom Alter und der Lebenssituation ab. Es kommt häufig zu Abbrüchen im Zusammenhang mit Leistungs- und Prüfungssituationen, also in Schule, Ausbildung oder Beruf.“ Aus Furcht vor dem Scheitern werde vieles erst gar nicht versucht. Das habe teilweise schwerwiegende Folgen für die berufliche und somit die wirtschaftliche Lebenssituation.

Betroffene Männer haben oft keine Beziehungserfahrung

Auch ins Private spielt eine soziale Phobie hinein: „Alltägliches Tun wie Small Talk beim Einkauf fällt vielen schwer, wie auch das Telefonieren allgemein“, sagt Wolters. Angstvolle Gedanken, das Richtige zu sagen, nicht negativ aufzufallen, nähmen jeder Situation die Leichtigkeit. Dies wirke sich auch auf den Umgang mit Bekannten, Freunden und Partnern aus. Meist haben Menschen mit sozialer Phobie – wenn überhaupt – nur wenige Personen, denen sie vertrauen.

„Umfragen unseres Verbandes haben ergeben, dass nur etwa die Hälfte der betroffenen Frauen und nur etwa jeder fünfte betroffene Mann Beziehungserfahrungen haben“, sagt Wolters. Der Wunsch nach Beziehung und Nähe sei zwar ausgeprägt, die Angst vor Enttäuschung und Ablehnung aber größer. Sie verhindere oft, sich überhaupt auf ein Kennenlernen einzulassen. Die Folgen könnten auch hier gravierend sein: Einsamkeit, weitere Selbstwertdefizite, zunehmende Depressivität.

Studien haben ergeben, dass sich eine soziale Phobie oft bereits vor dem 21. Lebensjahr entwickelt. Was die Ursachen betrifft, wird gegenwärtig ein Wechselspiel aus Umweltfaktoren und einer genetisch bedingten, neurobiologischen Disposition angenommen. „Die genetisch bedingte Vulnerabilität erklärt dabei nur 20 bis 30 Prozent, es muss etwas dazukommen“, sagt Falk Leichsenring: Mobbing von Gleichaltrigen, extrem ängstliche Eltern oder ein Vater, der sein Kind ständig runtergemacht habe.

Kritik an zu einseitiger Forschung

Was die Behandlung angeht, sei nach den geltenden Leitlinien Psychotherapie das Mittel der Wahl. „Zwar hat sich auch die Einnahme von Psychopharmaka – insbesondere Serotonin-Wiederaufnahmehemmer – als wirksam erwiesen, die Ergebnisse der Psychotherapie aber sind dauerhafter“, so Leichsenring. Insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie, bei der Betroffene unter anderem lernen, die Aufmerksamkeit nicht auf sich selbst zu richten, sowie die psychodynamische Therapie hätten sich als wirksam erwiesen.

„In der Psychodynamik geht es darum, nachzuspüren, was in den Personen abläuft, während sie Angst haben. Vielen ist zum Beispiel gar nicht bewusst, dass sie sich zwar fürchten, vor Menschen zu reden, sich aber im Innersten ebenso wünschen, groß herauszukommen“, sagt Leichsenring.

Beide Therapieformen werden von Krankenkassen bezahlt

Johannes Peter Wolters weiß aus Erfahrung, dass die an Übungen ausgerichtete Verhaltenstherapie bei der Behandlung oft unverzichtbar ist. „Aber in den letzten Jahren ist sie auch in den Medien zulasten wirksamer tiefenpsychologischer Verfahren überbetont worden.“ Eine heilsame Ausrichtung könne sein, sich nicht nur der Angst, sondern auch dem Gefühl der Scham aufgrund von Selbstwert-Kränkungen zuzuwenden. Wolters: „Wir gehen davon aus, dass eine Kombination beider Psychotherapie-Verfahren die größte Wirksamkeit haben könnte.“

Falk Leichsenring teilt diese Einschätzung: „Die psychodynamische Therapie, das muss man kritisch sagen, ist im Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie benachteiligt“, sagt der Psychologe. Zwar würden beide Therapieformen von der Krankenkasse bezahlt, beforscht aber werde eigentlich nur die Verhaltenstherapie. „Da muss sich etwas ändern“, sagt Leichsenring. Er fordert, die Wirksamkeit der Tiefenpsychotherapie näher zu untersuchen. Denn noch sei unklar, welche Therapieform für welche Menschen am besten passe. Leichsenring: „Es geht darum, Menschen besser helfen zu können, die bisher nicht ausreichend profitieren. Bei Ansprech- und Heilungsraten gibt es noch deutlich Luft nach oben.“