Braunschweig. Halten Erste-Hilfe-Apps ihr Versprechen, durch Notsituationen zu lotsen? Ein Selbstversuch.

Hand aufs Herz! Wann haben Sie zuletzt einen Erste-Hilfe-Kurs besucht? Mein letzter und einziger war vor rund 18 Jahren. Damals ging ich noch zur Schule: Vorbereitung für den Führerschein. Lang ist’s her. Alleine bin ich damit nicht: Der letzte Erste-Hilfe-Kurs des Durchschnittsdeutschen liegt laut Rotem Kreuz 15 Jahre zurück.

Als Erster an einem Unfallort wäre ich schlecht vorbereitet. Zwar erinnere ich mich: Warndreieck aufstellen, stabile Seitenlage, Wiederbelebung, Notruf. Aber in welchen Fällen? Und in welcher Reihenfolge?

Smartphone-Apps versprechen, in solchen Situationen weiterzuhelfen, Sicherheit zu geben. Zwar betonen alle Anbieter, dass ihre Apps keinen echten Kurs ersetzen können. Dennoch verspricht etwa das Rote Kreuz in einem Youtube-Video: Mit der App „Erste Hilfe DRK“ sei die „interaktive Begleitung einer Notfallsituation möglich“. Das Programm könne „durch eine Notfallsituation lotsen“. Das klingt fast nach einer günstigen Alternative zum Kurs.

Ich bleibe skeptisch und will es genau wissen: Wie nützlich sind diese Apps? Wie bewähren sie sich im Ernstfall? Deshalb treffe ich Susanne Felka von den Johannitern. Sie bildet regelmäßig Laien in Erster Hilfe aus. Als ich ihr die vollmundigen Versprechungen vorlese, runzelt sie die Stirn. „Dann lassen Sie es uns doch einmal ausprobieren!“

Im Vorfeld habe ich drei solcher Apps verglichen. Da „Erste Hilfe DRK“ interaktiv funktioniert und die Anweisungen laut vorliest, entscheide ich mich bei meinem Selbstversuch für diese App.

„Wovon wollen wir ausgehen?“, fragt mich Felka. Der schlimmste Fall wäre, dass der Helfer die App erst im Notfall installiert. Zum Stress der Notfallsituation käme so die Herausforderung, sich mit der neuen App vertraut zu machen. Man mag es sich kaum vorstellen. Deshalb testen wir eine Situation, in der sich „Erste Hilfe DRK“ bereits auf dem Telefon befindet.

Die Erste-Hilfe-Puppe, die regelmäßig in Felkas Kursen zum Einsatz kommt, hat sie schon ausgepackt. Der Kunststofftorso liegt auf einer silbrigen Decke auf dem Fußboden. Ich bin bereit.

Das Szenario: „Stellen Sie sich vor, Sie sind an Ihrem Arbeitsplatz, betreten einen Raum und finden eine leblose Person auf dem Boden. Ihre Kollegen haben alle schon Feierabend. Niemand außer Ihnen ist in der Nähe.“ Auf die Plätze – fertig – los!

Ich betrete den Raum, sehe die Puppe und stehe vor meinem ersten Problem: Was tun? Das Smartphone zücken oder mich der Person widmen? Ich entscheide mich für die Person. Natürlich reagiert sie nicht, also öffne ich die App und tippe im Startmenü auf „Erste Hilfe starten“.

Anhand kurzer Fragen, die ich mit Ja oder Nein beantworte, sagt mir eine Frauenstimme, was zu tun ist. Die ersten Fragen erübrigen sich hier, kosten aber Zeit: „Befinden Sie sich im Straßenverkehr?“ „Befindet sich die Person in einem Gefahrenbereich?“

Endlich komme ich dazu, meinen Patienten zu untersuchen: Ist er bei Bewusstsein? Atmet er? Seit meinem Eintreffen ist schon fast eine Minute vergangen.

Immer ungeduldiger höre ich den an sich kurzen, deutlich gesprochenen Ansagen zu. In meinem Kopf tickt die Uhr. Ich habe das Gefühl, Zeit zu verlieren, denn ich weiß: Schnelligkeit entscheidet über Leben und Tod.

Trotzdem bin ich fast genauso sehr mit meinem Telefon beschäftigt wie mit dem Patienten. Um den Notruf abzusetzen, muss ich die App verlassen und dann wieder öffnen. Bis ich mich über dem Brustkorb der Puppe aufbaue um endlich mit der Reanimation zu beginnen, vergehen fast fünf Minuten. In dieser Zeit erleidet das Gehirn normalerweise Schäden, die nicht reparabel sind. Im Ernstfall wäre mir die Person wohl gerade unter den Händen – oder unterm Handy – weggestorben.

Die Manöverkritik von Susanne Felka fällt entsprechend aus: „Sie haben sehr hilflos auf mich gewirkt.“ Recht hat sie. Das Handy hat mir nicht das erhoffte sichere Gefühl gegeben. Eher im Gegenteil: Statt mich voll auf die Notfallsituation und den Verletzten zu konzentrieren und aktiv zu sein, habe ich immer wieder aufs Display gestarrt und passiv auf Anweisungen gewartet.

Jetzt zeigt Felka, wie sie es macht. Keine Minute vergeht, bis sie mit der Herzdruckmassage beginnt. Viel heftiger als ich pumpt sie mit durchgestreckten Armen auf dem Brustkorb der Puppe. Darauf angesprochen, sagt sie: „Ja, bei der Herzdruckmassage waren Sie zu zaghaft.“ Und fügt achselzuckend hinzu: „Aber das lernt man bei der Ausbildung.“

Zweiter Versuch: stabile Seitenlage. Bewusstlose Personen, deren Kreislauf stabil ist, die also normal atmen, müssen in diese Position gebracht werden. Wieder befolge ich Schritt für Schritt die Anweisungen der App, diesmal an einer lebendigen Person als Versuchsobjekt.

Und mein Ergebnis kann sich sehen lassen. Immerhin denke ich das kurz, denn Susanne Felka sagt: „Ja, das ist eine stabile Seitenlage.“ Zufrieden ist sie trotzdem nicht: Die Lage des Kopfes sei nicht optimal. „Der Mund muss am tiefsten Punkt sein, damit der Speichel abläuft. Sonst erstickt Ihnen die Person.“ Also wieder nur mäßiger Erfolg.

Als wir das Experiment beenden, fühle ich mich schlechter denn je auf Notsituationen vorbereitet. Das Smartphone in der Hosentasche vermittelt keine Sicherheit. Susanne Felka wundert’s nicht. Für sie gibt es nur ein Mittel: Erste-Hilfe-Kurse besuchen. „Wer regelmäßig Kurse besucht, fühlt sich absolut sicher. Einmal im Leben trifft einen eine solche Situation. Dann sollte man wissen, was zu tun ist.“

Aber ist nicht der Gebrauch einer App besser, als im Notfall gar nichts zu tun? Felka tut sich schwer mit der Frage: „Klar, der einzige Fehler, den wir Ersthelfer machen können, ist der, nichts zu tun. Aber dass die Apps im Ernstfall besser als Nichts sind, würde ich nicht sagen. Weil ich befürchte, dass das Leute davon abhalten könnte, Kurse zu besuchen.“

Bei mir ist es genau andersherum: Die Beschäftigung mit den Apps weckt mein Interesse, mal wieder einen Kurs zu besuchen. Vielleicht trainiere ich dann nachher mit einer App. Auch Felka findet, die Apps haben ihre Berechtigung als Gedächtnisstütze: „Zum Auffrischen der Kenntnisse finde ich sie wirklich toll“, sagt sie: „Abends nach der Arbeit daddelt man ein bisschen auf den Handy und wiederholt so das Gelernte – aus dem Kurs.“