Berlin. Die AOK fordert strengere Regeln für schwere Operationen. Denn viele Kliniken operieren auch dann, wenn es Ärzten an Erfahrung fehlt.

„Kein Chirurg würde für eine komplizierte Operation eine Klinik aufsuchen, wo das nur zweimal im Jahr gemacht wird.“ Hartwig Bauer muss es wissen. Der 74 Jahre alte Arzt hat in seinem Leben unzählige Operationen geleitet, hat Forschungspreise gewonnen und jahrelang ein großes Kreiskrankenhaus geführt. „Je mehr Fälle eine Klinik hat, desto geringer ist die Sterblichkeit.“ Das ist seine Erfahrung – und das bestätigen Zahlen aus dem neuen Krankenhaus-Report der AOK. Das Problem: Viele deutsche Krankenhäuser halten sich nicht daran. Sie operieren auch dann, wenn die nötige Erfahrung fehlt. Mit zum Teil tödlichen Folgen für die Patienten.

Für sieben Krankheitsbilder ist vorgeschrieben, wie viele Eingriffe pro Jahr nötig sind, damit eine Klinik genug Erfahrung hat und die Behandlung durchführen darf. Gesetzliche Mindestmengen gibt es für Leber-, Nieren- und Stammzelltransplantationen, für künstliche Kniegelenke, bei Eingriffen an der Speiseröhre oder der Bauchspeicheldrüse und bei der Versorgung von kranken Neugeborenen und Frühchen.

USA hat schärfere Vorschriften

Hat ein Patient Krebs im Bereich der Bauchspeicheldrüse, darf er hierzulande nur in einem Haus operiert werden, das im Jahr mindestens zehn solcher Eingriffe vornimmt. Das klingt machbar – in den USA sind immerhin doppelt so viele Fälle Vorschrift. Doch in der Praxis läuft es anders: Laut Krankenhaus-Report wurden 2014 in 700 deutschen Kliniken rund 12.000 solcher Operationen durchgeführt – doch nur knapp die Hälfte der Kliniken erreichte die Mindestmenge von zehn Eingriffen. Bei der Speiseröhren-OP, wo die gleiche Mindestmenge gilt, hielten sich demnach sogar drei Viertel der Häuser nicht an die gesetzliche Vorgabe.

Ein klarer Regelverstoß – der nach Kassenangaben aber meistens ohne Folge für die Klinikbetreiber blieb, weil die Aufsichtsbehörden der Länder den Krankenhäusern oft großzügige Ausnahmeregelungen einräumen. Und das, obwohl der Report zeigt: Patienten, die 2015 in einem Haus mit sehr geringen Fallzahlen an der Bauchspeicheldrüse operiert wurden, hatten ein um 73 Prozent größeres Risiko, im ersten Jahr nach der OP zu sterben, als Patienten, die in Kliniken mit den höchsten Fallzahlen waren.

Regelung soll auf andere OPs ausgeweitet werden

Doch es geht nicht nur um die Einhaltung der bereits gültigen Mindestmengen. „Die Mindestmengenregelungen müssen dringend ausgeweitet werden“, fordert Martin Litsch, Chef des AOK-Bundesverbands. Erfahrene Ärzte wie Hartwig Bauer, langjähriger der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, schlagen Mindestmengen für Krebs-Operationen an Magen, Darm und Lunge vor, aber auch für Eingriffe an der Schilddrüse oder bei Operationen zur Verringerung von Übergewicht.

Für AOK-Chef Litsch, der weiß, wie mühsam es für die Kassen werden dürfte, sich mit Krankenhäusern und Ärzten auf gemeinsame Richtlinien zu einigen, will zumindest für vier weitere Behandlungen Mindestmengen festlegen: Für den Hüftgelenksersatz, für Schilddrüsen- und Brustkrebsoperationen und für die Geburtshilfe.

Risiko in unerfahrenen Kliniken teils doppelt so hoch

Beispiel Schilddrüse: Läuft die Operation schlecht, kann es zu einer anhaltenden Stimmbandlähmung kommen. Eine Auswertung der 57.000 Schilddrüseneingriffe, die zwischen 2011 und 2013 bei AOK-Patienten durchgeführt wurden, zeigt laut Report: Wer in einem Haus mit weniger als rund 50 Eingriffen pro Jahr operiert wurde, hatte ein mehr als doppelt so hohes Risiko für Komplikationen wie Patienten, die in einem Haus mit mehr als rund 400 Fällen behandelt wurden.

Die AOK schlägt nun eine Mindestmenge von 120 Eingriffen pro Jahr vor. Auch bei den Hüftgelenksoperationen war das Risiko für einen erneuten Eingriff binnen Jahresfrist für Patienten in Häusern mit sehr kleinen Fallzahlen doppelt so groß wie bei der Gruppe mit sehr erfahrenen Operateuren. Bei den Brustkrebseingriffen seien in einem Viertel aller Kliniken weniger als acht Fälle pro Jahr operiert worden.

Bei der Geburtshilfe stützt sich Litsch auf die Forderung von Fachärzten, die eine Untergrenze von 500 Geburten pro Klinik richtig finden – „was zu einer deutlichen Konzentration der derzeitigen Geburtshilfestandorte im Land führen würde“, wie Litsch einräumt. Doch nur so sei es möglich, überall eine 24-Stunden-Bereitschaft eines Facharztes zu gewährleisten.

Höhere Fallzahlen bei Geburten – das hat auch Nachteile

Spätestens hier wird deutlich, was die Forderung nach Mindestmengen für die Versorgung in der Fläche bedeutet: Abteilungen müssten geschlossen oder zusammengelegt werden, ganze Standorte würden möglicherweise schließen. Genau das ist im Sinne des Gesetzgebers. Das Ziel der jüngsten Krankenhausreform der großen Koalition lautet: Weniger Betten, mehr Qualität. Doch die Krankenhausbetreiber sperren sich, viele Kommunen haben Angst vor Klinikschließungen.

Hinzu kommt: Was bei seltenen, komplizierten Eingriffen grundsätzlich sinnvoll erscheint, ist dagegen bei Geburten höchst fraglich. Denn anders als bei planbaren Operationen an der Hüfte, der Schilddrüse oder bei vielen Krebsarten, kommen Kinder gerne mal dann zur Welt, wenn gerade keiner damit rechnet. Kurze Wege sind deswegen hier entscheidend – doch besonders auf dem Land ist die Versorgung heute schon lückenhaft. Gerade erst hat eine neue Studie gezeigt: Die Zahl der Kreißsäle ist in den letzten 25 Jahren um 40 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Geburten aber nur um elf Prozent. Eine weitere Konzentration nach dem Prinzip Mindestmenge würde die Wege noch länger machen.