Berlin . Hinter einer Kaufsucht verbirgt sich häufig das Bedürfnis nach Trost. Zusätzlich leiden viele Betroffene an Depressionen oder Ängsten.

Bei den einen sind es Kleidungsstücke: unzählige. Sie hängen ungetragen, teilweise noch mit Preisschild versehen, im Schrank, werden in Kisten und Tüten verstaut, manchmal zurückgebracht, gespendet, an Bekannte verschenkt. Bei anderen sind es Angeln und Anglersportzubehör, mehr, als ein einzelner Angler jemals benutzen könnte. Oder Bücher, Hunderte Bücher – nur ein Bruchteil davon wird gelesen.

Etwa fünf Prozent aller erwachsenen Menschen sind stark kaufsuchtgefährdet. Das ist das Ergebnis einer großen Metaanalyse, die zahlreiche internationale Studien untersucht hat. „Episoden exzessiven Warenkonsums“, wie Experten es nennen, sind charakteristisch für diese Erkrankung, mit der vorwiegend junge Menschen – und darunter mehr Frauen als Männer – zu kämpfen haben.

Die meisten Produkte werden weder benötigt noch benutzt

Die Kaufattacken können sich prinzipiell auf alles richten, was zu haben ist. Bei Männern seien das oft Sportutensilien oder Elektrogeräte, bei Frauen Kleidung, Kosmetik, Accessoires, sagt Astrid Müller, Professorin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover und Mitglied des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM).

Allerdings kaufen die Patienten nicht ein, weil sie einen Gegenstand gern verwenden möchten oder weil sie ihn tatsächlich benötigen: „Der nachhaltige Gebrauch der Waren spielt für die Betroffenen keine Rolle“, so Astrid Müller. Vieles werde nur selten oder gar nicht genutzt. „Vorrangig geht es um den Kauf- oder Bestellakt als solchen, und mitunter auch um den Besitz der Sache. Manche der Patienten haben eine stark materielle Werteorientierung.“

Wenn aus kleinen Belohnungen große werden

Dahinter steckt das Bedürfnis nach positiven Gefühlen: Der Kauf als Trost oder Belohnung, als Ablenkung von Sorgen und Traurigkeit, als wohlverdiente Entschädigung für erlittenen Ärger oder Stress. Man kann diese Logik nachvollziehen: Nach einer richtig schlechten Woche, angefüllt mit kleinen und mittleren Katastrophen, wirkt ein neues Paar Schuhe schließlich manchmal Wunder.

Doch wenn aus den kleinen Belohnungen größere werden, wenn man sie nicht nur gelegentlich, sondern ständig braucht, wenn die Gedanken nur noch um die Suche nach diesen Seelentröstern kreisen, dann ist offenbar etwas aus dem Ruder gelaufen.

Die Sucht zu befriedigen ist heute leichter denn je

Meist beginnt die Sucht allmählich: „Manche der Betroffenen leben schon in der Jugend ab und zu leicht über ihre Verhältnisse“, sagt Expertin Astrid Müller. Es kommt zu wiederholtem Kontrollverlust beim Einkaufen, zu kleinen Lügen, zu ersten Schulden. Dazwischen gibt es zwar auch symptomfreie Phasen, doch bei einschneidenden Lebensereignissen, etwa Krankheiten, Verlusterfahrungen, persönlichen Niederlagen, bricht das Verlangen nach neuen Dingen wieder durch.

Und es zu erfüllen, ist heute leichter als je zuvor: Mussten Betroffene früher häufig weite Strecken fahren, um in der Anonymität großer Geschäfte möglichst nicht aufzufallen, oder Ausreden entwickeln, warum und für wen sie schon wieder etwas Neues brauchten, können sie sich heute jederzeit und überall mit dem Einkaufen beschäftigen. „Mit einem Klick kann man etwas bestellen – die Spanne zwischen Kaufwunsch und Kaufentscheidung ist minimal geworden“, sagt Astrid Müller.

Nach der Bestellung folgt oft das schlechte Gewissen

Hinzu kommt die nutzerspezifische Werbung, die den Kaufreiz noch zusätzlich anfacht. Insgesamt beobachtet die Expertin des DKPM eine leichte Zunahme von Kaufsucht-Erkrankungen – ob diese jedoch mit den Möglichkeiten des Onlineshoppings zusammenhängt, lasse sich bisher nicht belegen.

Nach dem kurzzeitigen Hochgefühl, das der Kauf verschafft, kommen mit den bestellten Paketen auch das schlechte Gewissen und die Scham ins Haus. Manche geben die Sachen daraufhin weg oder verkaufen einen Teil auf Flohmärkten. „Doch etwa zwei Drittel aller Patienten horten ihre Einkäufe“, sagt Astrid Müller. „Manchmal nimmt das so extreme Ausmaße an, dass Zimmer nicht mehr betreten werden können.“

Gute Erfolge mit einer Verhaltenstherapie

Die Ursachen der Sucht sind vielfältig: Oft stellen die Betroffenen eine starke Diskrepanz fest zwischen dem Menschen, der sie sein möchten und dem Menschen, als den sie sich erleben. Sie kämpfen mit einer ständigen Unzufriedenheit und Selbstwertproblemen, sind gleichzeitig sehr impulsiv und haben Schwierigkeiten, das zu beherrschen.

Obwohl Kaufsucht-Patienten insgesamt eine sehr heterogene Gruppe bilden, leidet die Mehrheit zusätzlich unter Depressionen oder Angststörungen. Bei einigen kommen Essstörungen und Übergewicht als Begleitproblematik hinzu, manchmal nimmt auch das Horten der gekauften Gegenstände zwanghafte Züge an.

Und schließlich bringt die Sucht viele weitere Probleme mit sich, soziale und finanzielle: „In manchen Fällen kommt es zur Beschaffungsdelinquenz“, sagt Astrid Müller. Die Patienten betrügen, lügen oder bezahlen ihre Rechnungen nicht. Angehörigen und Freunden von Kaufsucht-Patienten empfiehlt die Expertin, das Problem ernst zu nehmen. Keinesfalls solle man Betroffenen Geld leihen. Doch auch moralisierendes oder verurteilendes Verhalten sei der falsche Weg.

„Wofür steht mein Kaufbedürfnis?“

So dramatisch sich die Krankheit auch auf das Leben der Betroffenen auswirkt – wer einmal erkannt hat, dass er sein Verhalten selbst nicht in den Griff bekommt, dem kann in der Regel mit psychotherapeutischen Mitteln geholfen werden. „Die Wirksamkeit von verhaltenstherapeutischen Konzepten bei Kaufsucht ist sehr gut belegt“, sagt Astrid Müller. Als erste Anlaufstelle kann eine Suchtberatungsstelle oder eine gut aufgestellte Schuldnerberatung dienen. Auch Selbsthilfegruppen eignen sich, um die Wartezeit bis zu einer Psychotherapie zu überbrücken.

Im Rahmen dieser Therapie, so erklärt Astrid Müller, würden dann beispielsweise Kaufprotokolle geführt; zudem mache man sich die inneren und äußeren Auslöser der Kaufattacken bewusst: „Wofür steht mein Kaufbedürfnis? Was kann ich stattdessen tun?“ Auf diese Weise könnten Patienten mögliche Handlungsalternativen entdecken und verinnerlichen, um so zu einem normalen Umgang mit dem Einkaufen zurückzufinden.