Mèo Vac. Im Norden Vietnams kämpft die Hilfsorganisation Plan International gegen Teenager-Ehen, bittere Armut und Versklavung.

May will nicht länger reden. Sie muss aufs Feld, Spinat schneiden für das Mittagessen. Die junge Familie hat Hunger, und heute gibt es Reis zum Gemüse. Das ist Luxus für die Bewohner des Dorfes Ca Chua Do im Norden Vietnams. Normalerweise gibt es nur Mais. May sitzt mit ihrem Ehemann Hai auf der Kante des großen Holzbettes, des einzigen Möbelstücks in ihrer Hütte. Im Arm hält sie ihre dreijährige Tochter Di, in einer Ecke des Bettes liegt die zweijährige Va und hustet im mittäglichen Halbschlaf. In der offenen Kochstelle glimmt ein wenig Holzkohle. May sagt, sie sei 20, ihr Mann Hai will 23 sein. Beide sehen aus wie 17 oder noch jünger.

May trifft den zukünftigen Mann als Schülerin der Klasse 6

Die Hmong, zu denen die beiden gehören, sind ein konservatives Volk. „Es ist wirklich schwer, an sie heranzukommen“, sagt Entwicklungshelferin Quynh Tran. Sie arbeitet für die Hamburger Hilfsorganisation Plan International in der Region an der chinesischen Grenze. Plan sucht seit fünf Jahren den Kontakt zu den Menschen und unterstützt Dörfer im Bezirk Hà Giang. Inzwischen gibt es Dorfschulen mit Wasseraufbereitungsanlagen, es gibt Toiletten und medizinische Versorgungszentren. Oberstes Ziel ist es aber, die Tradition der Kinderhochzeiten zu bekämpfen.

Der Eindruck täuscht auch bei May und Hai nicht: Was sie über die Zeit ihres Kennenlernens erzählen, verrät, dass sie sehr jung sein müssen. 2012 haben sie sich, wie sie sagen, auf dem sogenannten Liebesmarkt in der Kleinstadt Mèo Vac kennengelernt – damals ging May in die Klasse 6, Hai in die 7. Sie verließen die Schule, halfen ein Jahr lang den Eltern zu Hause und heirateten 2013. Jetzt kümmert sich May um die Kuh, die Hühner und das Schwein, sie pflegt die Beete und die Kinder – bald wird ein drittes hinzukommen. Hai sagt, er helfe seinen Eltern auf dem Feld.

Der junge Vater blickt in die dunkle Ecke des Bettes, wo das immer stärker hustende Kleinkind liegt. Es klingt, als wäre ein Arztbesuch ratsam. Hai steht auf, um die Gäste aus dem fernen Europa zu verabschieden. Seine Jacke und Hose schlackern um den dürren Körper. May streicht sich eine Strähne aus dem jungen Gesicht und nickt zum Abschied. Auch sie schafft es nicht zu lächeln. Der Arzt sei nur ein paar Kilometer über einen Bergpfad entfernt, sagt Entwicklungshelferin Quynh Tran, doch die Familie lasse sich nicht überreden. „Arztbesuche sind ihnen unangenehm.“

Die Hmong helfen sich selbst, warten, bis der Husten vorbeigeht oder die Augenentzündung. Schwiegermütter sind traditionell die Geburtshelferinnen. „Wenn sie unser Hygieneset benutzen, dann ist es schon ein Erfolg“, sagt Quynh Tran. Auch May vertraut ihrer Schwiegermutter mehr als der ausgebildeten Hebamme. Sie freue sich auf das dritte Kind. „Kinder sind wunderbar“, sagt sie. Ihr Mann ergänzt: „Wir wünschen uns einen guten Beruf für sie. Vielleicht Arzt oder Lehrer. Sie sollen fleißig sein in der Schule.“

Und wenn sie als Teenager heiraten wollten? Würden sie sie davon abhalten? „Nein, nein“, sagen die beiden. Sie hätten nichts gegen eine frühe Heirat.

Ob es um ihr eigenes Alter geht, ihre Wünsche, ihre Zukunft: Was die beiden erzählen, ist widersprüchlich, wirkt konzeptlos, als lebten sie mit ihren Kindern von einem Tag auf den anderen. Quynh Tran erklärt das mit der konservativen Grundhaltung vieler Hmong, die durchaus im Widerspruch stehe zur Familien- und Bildungspolitik des sozialistischen Staates Vietnam.

In Ca Chua Do, 20 Minuten Fußweg über einen Trampelpfad von der nächsten Schotterstraße entfernt, ist von sozialistischer Propaganda wenig zu spüren. Strom gibt es nur in wenigen Hütten, das Wasser holen sich die 300 Einwohner aus einem Hahn in der Dorfmitte. Der Besuch von Haus zu Haus gleicht einer Trekkingtour. Während sich die Europäer mit Wanderschuhen abmühen, springen die Kinder mit Hausschuhen über die spitzen Steine.

In den Hütten leben alle Familienmitglieder in einem Raum. Das schafft Nähe: „Die Bindung zwischen Eltern und Kindern ist groß“, sagt Entwicklungshelfer Vu Than Hien. Diese Gemeinschaft zu verlassen, etwa, um einen Schulabschluss zu machen und einen Beruf zu erlernen – für die meisten sei das kaum vorstellbar. Der Teufelskreis aus mangelnder Bildung und Angst vor Neuem macht es so schwer, die frühen Ehen zu verhindern. Dabei ist es in Vietnam offiziell verboten, vor dem 18. Geburtstag zu heiraten. Auch sollen Familien nicht mehr als zwei Kinder haben. Doch bei den Minderheiten macht der Staat Ausnahmen. So liegt die Geburtenrate landesweit bei 2,1 Kindern pro Frau. Hmong-Frauen hingegen bekämen vier bis fünf Kinder, sagt Vu Than Hien.

Wenn überhaupt, funktioniert Veränderung über die Schulen. Vorbildlich in der Region arbeitet in dieser Hinsicht die Oberschule in Lung Pu, einer Gemeinde im Distrikt Mèo Vac. Sie wird von Plan International unterstützt. Offene Unterrichtsmethoden lösen hier Frontalunterricht ab, jede Klasse hat W-Lan und Computer. Vor allem die Mädchen sollen hier lernen, was den Hmong am meisten fehlt: Selbstbewusstsein, das ihnen hilft, ihr Leben selbstbestimmt zu führen.

In der Schule lernen die Mädchen Selbstbewusstsein

Vier Schülerinnen zwischen 13 und 15 Jahren sind alles andere als zurückhaltend. Zur Ehre der Besucher aus dem fernen Deutschland stellen sich die Mädchen vor ihre Klasse und singen traditionelle Lieder. Danach erklärt Ho Thi Vu (14), dass sie Ärztin werden will und nichts von der frühen Hochzeit hält. Dass ihre 15-jährige Schwester verheiratet sei und nicht mehr zur Schule gehe. Auch Van Thi Sin (13) erzählt von ihrer Schwester. Die konnte sich erfolgreich dem Wunsch der Eltern widersetzen, dass sie die Schule verlassen und heiraten möge. „Sie ging einfach weiter zum Unterricht, jeden Tag, obwohl es der Vater verboten hatte“, sagt Van Thi Sin. Irgendwann habe der Vater aufgegeben. Nun gehe die Schwester in die Klasse 10.

Offenbar hat der Unterricht im „girls club“ der Schule bei diesen Mädchen gefruchtet. In den zusätzlichen Stunden sollen sie selbstbewusster werden und lernen, ihre Meinung zu vertreten. Das kann sie auch gegen eine weitere Gefahr beschützen: Immer wieder werden Hmong-Mädchen nach China verschleppt, zwangsverheiratet und versklavt. Wegen Chinas langjähriger Ein-Kind-Politik und der verbreiteten Bevorzugung von Jungen wurden dort oft weibliche Föten abgetrieben, der Frauenmangel ist groß. Und die schüchternen Hmong-Mädchen sind für kriminelle Banden leichte Beute. Meist sind es gut aussehende junge Männer, die ihnen auflauern, Komplimente machen und so ihr Vertrauen gewinnen. So muss es auch bei Giang Thi Khe und Giang Thi Vu gewesen sein. Die Mädchen aus Lung Pu sind vor Monaten spurlos verschwunden. Nur ein Anruf folgte noch, in dem eine der beiden ihrem Vater erzählte, sie würden gefangen gehalten. Wie zur Mahnung hängt am Rathaus die Vermisstenmeldung aus.