Braunschweig. Zwischen Abwehr und Toleranz – Wenn der körpereigene Immunschutz überreagiert, kann er krank machen.

Unser Leser Martin Mertens fragt auf unserer Facebook-Seite:

Lässt im Alter das Immunsystem nach?

Die Antwort recherchierte Johannes Kaufmann

„Man sollte das Umfeld kleiner Kinder nicht zu steril und schmutzfrei halten.“
„Man sollte das Umfeld kleiner Kinder nicht zu steril und schmutzfrei halten.“ © Rafael Mikolajczyk, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI)

Immunoseneszenz – so wird eine langsame Verschlechterung des Immunsystems genannt. Das klingt wie „senil“, und tatsächlich gehen beide Begriffe auf das lateinische Wort für das Altern zurück. Und es stimmt: Im Allgemeinen wird das Immunsystem mit dem Alter schwächer. Allerdings betrifft das nur bestimmte Teile der Immunantwort. So reduziert sich beispielsweise die Produktion von Antikörpern.

Außerdem ist der Thymus, ein Organ des Lymphsystems, in dem spezielle Immunzellen reifen, zwischen dem 40. und dem 50. Lebensjahr so stark zurückgebildet, dass das Immunsystem nicht mehr so flexibel auf neue Erreger reagieren kann. Die Ursachen für diese Entwicklung sind noch nicht vollständig geklärt.

„Aber nicht nur das Alter spielt eine Rolle, sondern auch Erkrankungen, die das Immunsystem schwächen“, sagt Professor Rafael Mikolajczyk vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Und da ältere Menschen häufiger diese Krankheiten hätten, verstärkten sich diese negativen Effekte gegenseitig. Die verringerte Produktion von Antikörpern habe auch den Effekt, dass Impfungen im Alter weniger effektiv seien. „Das ist einer der Gründe, warum die Grippe-Impfung auf der Bevölkerungsebene nicht so gut funktioniert – weil sie vor allem älteren Menschen gegeben wird“, erklärt der Forscher von der Abteilung für Epidemiologie des HZI. Die gleiche Impfung funktioniere bei Jüngeren besser.

Überhaupt sind Jüngere eher das Metier von Professor Mikolajczyk. Als Leiter der Arbeitsgruppe Epidemiologische und Statistische Methoden betreut er die „LöwenKIDS“, In dieser Langzeitstudie möchten die Forscher vom HZI etwa 500 Kinder aus Braunschweig über mehrere Jahre begleiten und beobachten, wie sich ihr Immunsystem im Kontakt mit Krankheitserregern entwickelt. Dafür führen die Eltern ein Infektionstagebuch und schicken bei Erkältungen und Durchfall Nasenabstriche und Stuhlproben ein.

„Wir wollen erstmals die vollständige Geschichte aller Infektionen in den ersten sechs Lebensjahren dokumentieren“, beschreibt Professor Mikolajczyk das Ziel der Studie.

Daraus ließe sich anschließend zum Beispiel ermitteln, ob es Unterschiede im Immunsystem von Kindern gibt, die mehr Infektionen durchlebten als andere. Auch ließe sich vielleicht erklären, warum manche Menschen für bestimmte Infektionen anfälliger sind. „Es ist bekannt, dass manche Kinder zu Durchfällen neigen, während andere besonders häufig Infektionen der Atemwege erleiden. Diese Unterschiede in der Krankheitsanfälligkeit lassen sich mit unserer Studie vielleicht aufklären. Darüber hinaus könnte dies auch Hinweise darauf geben, wie Krankheiten wie Neurodermitis oder Asthma entstehen“, erklärt der Forscher.

Wie reagiert das Immunsystem

auf eine Infektion?

„Die meisten Erreger sind sehr spezifisch: Sie benötigen eine geeignete Eintrittspforte“, sagt Professor Mikolajczyk. Denn zunächst müsse ein Erreger in den Körper eindringen, zum Beispiel über die Schleimhaut der Atemwege oder über den Darm. Den ersten Schritt der Immunabwehr übernehmen unspezifische Immunzellen. Dazu gehören zum Beispiel Makrophagen. „Die umschließen die Erreger und präsentieren anschließend Teile davon, sogenannte Antigene, an ihrer Oberfläche“, so der Forscher. Daran können sich die Antikörper des Immunsystems binden.

Sind diese Antigene nicht bekannt, dauert die Produktion passender Antikörper länger. Wenn der Erreger aber schon einmal den Körper infiziert hatte, sind bereits Antikörper vorhanden. „Außerdem gibt es Gedächtniszellen, die von früheren Infektionen den Bauplan der passenden Antikörper enthalten, so dass sie sehr viel schneller produziert werden können“, sagt Mikolajczyk. Die Antikörper binden sich an die Erreger und verringern dadurch deren Aktivität. Außerdem locken sie andere Zellen des Immunsystems an, die dann die Keime zerstören.

Wie entwickelt sich das Immunsystem in der Kindheit?

Säuglinge profitieren nach der Geburt vom Nestschutz: Sie übernehmen die Antikörper aus dem Blut der Mutter. Doch deren Lebenszeit ist begrenzt auf drei bis sechs Monate. „Der Immunschutz geht dann verloren, weswegen Kinder ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahrs besonders anfällig für Infektionen sind. Um diese Schutzlücke klein zu halten, wird möglichst früh zum Beispiel gegen Masern geimpft“, sagt der HZI-Wissenschaftler.

Nur ein Teil des Immunsystems ist angeboren. Dazu gehören vor allem Zellen wie die Makrophagen, die unspezifisch fremde Partikel im Körper angreifen. Ein anderer Teil entwickelt sich hingegen durch den Kontakt mit der Umwelt, zum Beispiel durch die Infektion mit Mikroben. Dieses spezifische Immunsystem ist also angeeignet. „Deswegen müssen Kinder manche Infektionen einfach durchstehen oder dagegen geimpft werden, um anschließend davor geschützt zu sein“, sagt Professor Mikolajczyk.

Denn im Zuge dieser Infektionen entstehen Gedächtniszellen, die die Erinnerung an die vorangegangene Infektion enthalten und so für eine schnelle Immunantwort sorgen. Ein dauerhafter Schutz ist aber nicht garantiert. Die Gedächtniszellen können über die Jahre weniger werden, oder aber die neue Infektion wird durch einen anderen Erregerstamm ausgelöst. „Das beste Beispiel ist die Influenza: Zwar führt das Durchstehen einer Grippe zu einer gewissen Immunität, doch das Virus verändert sich jedes Jahr so stark, dass es die Immunität umgehen kann“, erklärt der HZI-Forscher.

Um dieses angeeignete Immunsystem geht es bei der Löwenkids-Studie. „Nicht alle Keime machen krank. Einige erzeugen auch eine gewisse Toleranz, die beispielsweise die Entstehung von Allergien verhindert“, sagt Professor Mikolajczyk. Das Immunsystem müsse lernen, was es angreift und was nicht. „Allergien sind eine Fehlsteuerung. Da reagiert die Immunabwehr auf Fremdkörper, die keine Krankheitserreger sind“, sagt der Wissenschaftler. Warum es zu dieser Verwechslung komme, sei nicht ganz klar. Es gebe eine Reihe von Hypothesen, die erklären sollen, warum die Zahl der Allergien zunimmt. So hätten Allergiker häufig ein insgesamt aktiveres Immunsystem, teilweise offenbar zu aktiv.

Sind Infektionen im Kindesalter notwendig?

„Das Immunsystem braucht eine Balance zwischen Abwehrkraft und Toleranz“, ist Professor Mikolajczyk überzeugt. Der Kontakt mit Mikroorganismen in den ersten Lebensjahren sei wichtig für Kinder. „Das sind aber nicht primär Erkältungen oder schwere Erkrankungen wie die Masern, gegen die man impfen sollte, sondern zum Beispiel die Keime, die dauerhaft subklinisch im Körper bleiben und letztlich die Mikroflora des Körpers bilden oder das Immunsystem stimulieren.“

Studien aus Finnland hätten gezeigt, dass die hohen Hygienestandards in diesem reichen Land dazu beitrügen, dass Asthma dort etwa achtmal so oft vorkommt wie in der ärmeren russischen Nachbarprovinz Karelia. „Das legt nahe, dass man das Umfeld kleiner Kinder nicht zu steril und schmutzfrei halten sollte“, sagt der Forscher.

Das heiße natürlich nicht, dass man auf Hygiene verzichten sollte, aber es scheine so, dass Kinder in reichen Ländern nicht in ausreichendem Maß Mikroben ausgesetzt seien. Das führe zu Problemen mit der Toleranz – möglicherweise mit dramatischen Langzeitfolgen: „Auch Diabetes Typ I, kardiovaskuläre Erkrankungen wie Arteriosklerose und manche Krebsarten werden vom Immunsystem beeinflusst.“

Das Kinder aufgrund der Ergebnisse seiner Studie später einmal mit spezifischen Erregern infiziert werden, um ihr Immunsystem zu stärken, hält Professor Mikolajczyk für wenig wahrscheinlich. „Aber vielleicht gibt es bald einen Mentalitätswandel, so dass die Welt der Mikroben weniger als Bedrohung betrachtet und die Immun-Toleranz stärker ins Zentrum gestellt wird.“