London. Superstar Bolt wird entthront, doch den Ex-Doper Gatlin mag das Publikum nicht feiern.

Usain Bolts letztes Einzelrennen geht in die Leichtathletik-Geschichte ein. Zum einen, weil der Superstar der Sportart ausgerechnet zum Ausklang seiner imposanten Karriere seine erste Niederlage in einem großen Wettkampf hinnehmen musste. Bisher hatte sich der Jamaikaner nur einmal selbst besiegt, als er 2011 bei der WM nach einem Fehlstart über 100 Meter disqualifiziert worden war.

Zum anderen, weil noch nie zuvor in der Leichtathletik ein Sieger so laut ausgepfiffen und ein Verlierer mit solch intensiven Huldigungen gefeiert worden war. „Usain, Usain“, brüllten die Zuschauer im Olympiastadion, obwohl Bolt gerade mit 9,95 Sekunden im 100-Meter-Finale hinter den beiden US-Amerikanern Justin Gatlin (9,92) und Christian Coleman (9,94) nur Bronze gewonnen hatte.

Als Bolt über die Ziellinie gelaufen war, herrschte für Sekunden eine gespenstische Stille im Stadion. 56000 Menschen hatte es die Sprache verschlagen. Momente, in denen das Gehirn erst einmal verarbeiten musste, was die Augen gerade auf der roten Tartanbahn gesehen hatten. Bolt, der Unbesiegbare, hatte verloren. Der König der Leichtathletik entthront – aber einen neuen König gibt es nicht. Denn das Publikum zeigte dem Weltmeister Justin Gatlin, was es von ihm hält. Es buhte den 35-jährigen US-Amerikaner, der es gewagt hatte, ihren Helden zu bezwingen, praktisch aus dem Stadion. Das Leichtathletik-Volk zeigte auch keine Gnade, als er kurz zuvor vor Bolt tief in die Knie ging. Ein Kniefall der Unterwerfung vor dem alten Regenten, ein Kniefall der Verehrung vor dem Superstar Bolt.

Die Zuschauer hatten ihr Urteil vor dem Rennen gefällt, als sie den früheren Doper Gatlin mit Buh-Rufen bedachten. Der inzwischen 35 Jahre alte Olympiasieger von 2004 wurde schon zweimal gesperrt. 2006 entging er nur einer lebenslangen Verbannung aus dem Sport, weil er als Kronzeuge gegen seinen Trainer auftrat. Nach Ablauf einer vierjährigen Sperre raste er noch schneller über die Tartanbahn, als er es vorher mit nachweislich verbotenen Methoden getan hatte.

Für die Leichtathletik war der Samstag kein guter Tag. Ausgerechnet ein Wiederholungstäter als Nachfolger von Bolt: Schlimmeres hätte der ohnehin durch Doping-Skandale belasteten Sportart nicht passieren können. „Das war nicht das Drehbuch, wie wir es uns gedacht hatten“, gab Sebastian Coe, der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes zu.

Usain Bolt, der es nicht geschafft hatte, zum vierten Mal das WM-Gold über 100 Meter zu holen, war zwar enttäuscht, zeigte sich jedoch als fairer Verlierer. „Heute war Justin der Beste. Ich habe alles gegeben, aber es hat nicht gereicht“, sagte Bolt und bat um Respekt für den neuen Weltmeister: „Er hat seine Zeit abgesessen. Er hat es geschafft, hier zu sein und schnell zu laufen. Ich sehe ihn wie jeden anderen Konkurrenten.“

Aber Gatlin ist eben nicht wie jeder andere Gegner. Gatlin ist das Symbol der verseuchten Leichtathletik. Gatlin kann nicht verstehen, warum er der „bad guy“, der böse Junge, ist. „Ich gratuliere immer, schüttele jedem die Hände“, sagte er und griff dann die Medien an: „Wir arbeiten hart, trainieren jeden Tag. Ihr sitzt rum und tippt auf eure Computer.“ Der US-Amerikaner teilte aus, entschuldigte sich aber nicht für seinen mehrfachen Betrug. Und auch Usain Bolt nutzte seinen letzten Auftritt vor der Weltpresse nach einem Einzelrennen nicht dazu, um ein Statement für den sauberen Sport abzugeben. Eine verpasste Chance.