Wolfsburg. In Barcelona und München hat Jonker die Schönheit des Fußballs erlebt. Beim VfL geht’s nur um Punkte. Erstmal.

. Wenn Andries Jonker über seine Jugend in Amsterdam spricht, glänzen seine Augen. Es wird schnell klar: Der Trainer des VfL Wolfsburg liebt den Fußball. Er hat viel erlebt – und noch mehr vor. Mit Sportredakteur Leonard Hartmann sprach er über frühe Einflüsse, die Fans und natürlich die wundersame Serie, die Jonker mit Mario Gomez teilt.

Herr Jonker, sind Sie selbst noch Fußballfan?

Das hat im Laufe der Zeit leider abgenommen. Ich erinnere mich noch gut an früher, wo ich als kleiner Junge nach der Sommerpause im Juli wieder bei den Ajax-Plätzen in Amsterdam vorbeigefahren bin. Von Zuhause aus waren es mit dem Fahrrad 20 Kilometer. Internet gab es natürlich noch nicht, daher hatte ich immer eine Münze dabei, um meine Mutter anrufen zu können, wenn es ein Problem gibt. Ich habe an den Plätzen geguckt, ob die Linien schon gezogen sind und ob die Tore wieder stehen. Da hat es gekribbelt. Das war die Zeit von Johan Cruyff, Johan Neeskens, ein Deutscher war auch dabei: Horst Blankenburg. Das sind schöne Erinnerungen. Mittlerweile ist es mehr zu einem Rhythmus geworden. Es gibt die Fußball-Unterbrechung im Sommer. Und dann geht es wieder weiter.

Was hat Sie fußballerisch geprägt?

Wenn Ajax Amsterdam damals unter Flutlicht gespielt hat, in weißen Strümpfen, weißen Hosen, rot-weißen Trikots, dann sah das so schön für mich aus, das war überragend. In meiner Erinnerung lief der Ball ganz schnell von Fuß zu Fuß der Spieler – dazu die Dribblings von Cruyff. Das war schön und erfolgreich. Das war begeisternd, das liebten die Leute – und mich hat es geprägt. Ajax hat damals dreimal hintereinander den Europapokal gewonnen. In der heutigen Zeit haben das nicht einmal Barcelona oder Bayern geschafft. Damals ging das noch. Diese Zeit hat mich unheimlich beeinflusst.

Sie haben bei Barcelona, dem niederländischen Nationalteam, Bayern und Arsenal gearbeitet. Tut es Ihnen weh, jetzt beim VfL den Abstiegskampf zu akzeptieren?

Nein, wenn man so lange dabei ist, weiß man, dass dieses Ajax-Spiel, das der Nationalmannschaft und später das von Barcelona oder Bayern, dieser wirklich schöne Fußball in Kombination mit Erfolg nur mit der allergrößten Mannschaft möglich war. Das war bei anderen Teams nicht möglich. Und in Wolfsburg bin ich in einer Situation gekommen, in der es einzig und allein darum geht, aus der unteren Tabellenregion wegzukommen. Das „Wie“ ist im Moment komplett egal. Trotzdem: Ich kannte schon einen Großteil der Mannschaft, und es gab keine andere Option als Fußball mit ihnen zu spielen. Das war mir von Tag 1 an klar. Wir können nicht nur die Bälle hinten weghauen, die Spieler ticken nicht so. Sie haben nach einem Plan gefragt. Und den habe ich ihnen vorgelegt.

Wie schnell hatten Sie den Plan parat?

Ich habe mir Montag und Dienstag zwei Tage zum Reden, Zuhören und Beobachten gegeben. Mittwoch war dann frei. Und dann habe ich Donnerstag meinen Plan vorgelegt, was ich in Mainz vorhabe. Da haben wir uns dann besonders in der ersten Hälfte sehr schwergetan, und ich habe das Problem in der Offensive gesehen. In Leipzig war ich nur mit der ersten Viertelstunde zufrieden. Das Spiel sah zwar verbessert aus, aber insgesamt waren wir nach diesen 15 Minuten zu unruhig. Wir hatten fünf, sechs gute Konteraktionen, aber immer hat ein Spieler einen Fehlpass gespielt – ohne Grund. Ich war zufrieden mit dem Ergebnis. Und ich unterschreibe sofort, wenn das in Leverkusen wieder passiert. Wir dürfen viele Bälle zum Gegner spielen, so lange wir gewinnen. Aber: Das Ziel ist doch, die Bälle von Grün zu Grün zu spielen.

Wie viel Jonker-Fußball haben wir schon gesehen?

Sehr wenig. Es geht um Ansätze, und die habe ich in jedem Spiel gesehen. Da denke ich in eigenen Momenten: Ja, es geht mit dieser Mannschaft, sie versteht, was ich vorhabe. Aber das sind nur Ansätze und Phasen. Es geht noch nicht über eine Halbzeit. Das Tor in Leipzig war ein guter Moment, in dem das Umschalten gut geklappt hat. Und unser Treffer gegen Darmstadt entsprang aus unserem Ballbesitz. Das war auch gut. Dazu kam noch die Chance von Riechedly Bazoer. Wie diese Möglichkeit herausgespielt wurde, war auch so ein Blitzmoment. Das sah so aus, wie ich mir unseren Fußball vorstelle. Auch die geschlossene Abwehrleistung in Leipzig mit viel Herzblut, Einsatz, Wille und Aggressivität war positiv. Ich hatte über weite Strecken das Gefühl: Leipzig schafft es nicht, gefährlich zu werden. Aber es gibt in allen Bereichen sehr, sehr viel Luft nach oben.

Freuen Sie sich auf die Sommerpause, um Ihre Ideen intensiver verfolgen zu können?

Ich habe jetzt keine Zeit, mich darauf zu freuen. Es geht nur um Leverkusen.

Was haben Sie von Louis van Gaal, Felix Magath und Arséne Wenger gelernt?

Ich habe am längsten mit Louis zusammengearbeitet, daher hat er natürlich den meisten Einfluss auf mich. Er hat mich gelehrt, dass es darum geht, Begeisterung und Spaß zu vermitteln. Ich habe als Sportlehrer und auch beim Landesverband versucht, das bei Kindern umzusetzen, die Fußballspielen lernen wollten. Louis hat mir gezeigt, wie es im Spitzenfußball funktioniert. Wenn es keine Begeisterung und keinen Spaß gibt, gibt es auch keinen Erfolg.

Von Felix habe ich gelernt, dass es auch mal einen guten Effekt haben kann, wenn man aus seinem normalen Rhythmus, seiner Struktur ausbricht und Leute aus ihrer Komfortzone holt. Das gibt oft einen Reiz, und so verbessert man sich. In diesem Punkt hat er mir die Augen geöffnet.

Arséne hat mir gezeigt, was es bringt, einige Dinge 20 Jahre lang auf dieselbe Art und Weise zu machen. Besonders in Verbindung zum Nachwuchs, für den ich bei Arsenal zuständig war, war das eine große Hilfe. Denn: Wenn der Trainer 20 Vorbereitungen lang immer einige Jugendspieler ins Profiteam beruft, dann wissen alle Talente: Wenn mein Chef meint, dass ich gut genug bin, mache ich die Vorbereitung in einem schönen Land mit. Das ist Gold wert für die Jungs im Jugendbereich.

Warum sind Ihnen die Fans so wichtig?

Der Profifußball ist für die Fans und dank der Fans da. Die Profis haben ein hohes Gehalt und das bekommen sie nur, weil sich Millionen Menschen für sie und den Fußball interessieren. Wir haben einen wunderschönen Job – dank der Fans. Und daher müssen wir erreichbar, ansprechbar sein und ihnen zur Verfügung stehen. Es gibt natürlich Grenzen. Aber warum sollten wir ihnen nicht für ihre Unterstützung danken?

Und was bedeutet das auf die Fans in Wolfsburg bezogen?

Wir wollen doch schöne Spiele und eine tolle Atmosphäre haben. Was wären Bundesligaspiele mit 1500 Fans? Das wäre doch nicht schön. Wir wollen ein volles Haus haben. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Leute mit der Mannschaft identifizieren – und dafür muss gearbeitet werden. Die Fans haben eine schlaue Zeile auf dem Plakat: Arbeit, Fußball, Leidenschaft. Damit haben sie recht. Jeder Fan will, dass seine Mannschaft gewinnt, das ist logisch. Aber wir alle wissen, dass es einfacher geht, wenn das Stadion voll ist und wenn die Leute begeistert sind. Wir müssen zusammenarbeiten. Wenn es diese Symbiose gibt, genießt jeder das Heimspiel. Oder auch auswärts in Leipzig mit 3000 Fans. Natürlich macht das mit der Mannschaft etwas. Wenn wir gewinnen wollen, ist der Draht zu den Fans sehr, sehr wichtig. Und ich erinnere mich daran, wie ich früher 20 Kilometer mit dem Fahrrad unterwegs war, nur um in der Nähe der Spieler zu sein. Das hat mich glücklich gemacht. Und dann stehen sie hier beim Training hinter einem Zaun, was mir nicht so gut gefällt. Und wir sind 100 Meter weg. Da ist es nur eine kleine Mühe für mich, nach dem Training zu ihnen zu gehen und ein bisschen zu danken.

Was mischen Sie Mario Gomez eigentlich ins Müsli?

(Lacht) Unsere Geschichte begann in München, wo Mario sich nach seinem Wechsel sehr schwergetan hat. Ich habe in jedem Training versucht, ihm Mut zu machen, und ihm zu zeigen, was er gut macht. Das war Toreschießen. Das Mitspielen hatte ihm am Anfang gefehlt, daran haben wir gearbeitet. In seinem zweiten Jahr hat dann alles geklappt, er hat die Torjägerkanone geholt. Er hat bei mir am Ende sehr viele Tore geschossen, als ich den Trainerposten von Louis übernommen hatte. Das war für ihn natürlich schon auffällig. Und klar: Es gibt da etwas zwischen uns. Wir haben etwas zusammen erlebt. Ich habe seine Entwicklung dann weiter verfolgt, wir hatten ab und an Kontakt. Und dann treffe ich ihn hier wieder. Als ich kam, standen 21 Tore in 22 Spielen in der Statistik – und das mit einem Gomez im Team? Also bin ich beim ersten Training gleich zu ihm gegangen, habe ihn in den Arm genommen und gesagt: Mario, du musst hier etwas machen. Er weiß, dass ich ihn schätze, aber dass ich auch deutlich zu ihm bin. Ich sage ihm, was er machen muss, und ich glaube, er fühlt sich gut dabei. Manchmal gibt es Phasen, in denen Stürmer gar nichts treffen. Und in anderen Momenten treffen sie den Ball falsch und der geht trotzdem rein. Er hat das Gefühl, gerade in so einer Phase zu sein. Und die kann gerne noch neun Spiele so bleiben (lacht).

Wird Ihnen die Serie nicht unheimlich?

Der Stürmer muss die Tore schießen, das ist seine Aufgabe. Und wenn wir ordentlich spielen, bekommt Mario normalerweise in jedem Spiel seine Chancen. Ich kenne ihn so gut, die Serie überrascht mich gar nicht. Aber natürlich ist es ein kleines Märchen, wenn so etwas anhält. Das ist eine typische Fußball-Geschichte, die eigentlich gar nicht wahr sein kann. Aber es passiert. Das ist doch das Schöne, die Romantik des Spiels.

Da werden Sie doch wieder zum Fußballfan.

Fußball ist das schönste Spiel der Welt. Menschen verbringen ihr ganzes Leben damit. Bei mir begann es mit der Begeisterung als kleiner Junge, dann kam der Moment, in dem man herausfindet, dass man vielleicht mal ein guter Trainer werden kann. Jetzt bin ich hier. Über die Jahre ist ganz viel passiert. Aber die Liebe zum Spiel ist immer da. Um solche Dinge geht es doch: um die Momente, die Spiele, von denen man in 20 Jahren noch alles weiß. Es geht um Spiele wie zuletzt Barcelona gegen Paris und Paris gegen Barcelona. Dass man denkt: Was passiert da? Das geht doch gar nicht. Aber es geht doch. Und die Gomez-Geschichte ist doch auch schön. Das Erwartete vergessen wir leicht. Aber das Unerwartete macht es erst so schön.