Singapur. Angelique Kerber spricht über ihr erfolgreichstes Tennisjahr, den Rummel um ihre Person und die harte Arbeit.

Angelique Kerber (28) ist die Nummer 1 der Tenniswelt. Sie gewann in einer Ausnahmesaison 2016 die Australian Open und die US Open, holte olympisches Silber in Rio, stand im Wimbledon-Finale und gewann auch beim Stuttgarter Grand Prix. Sie spielt im Saisonfinale der besten Acht bei der WM in Singapur, bei der sie zum vierten Mal am Start ist. Ihr Auftaktmatch bestreitet sie am Sonntag (13.30 Uhr/ZDF) gegen Dominika Cibulkova aus der Slowakei.

Seit Sie die Nummer 1 der Welt sind, sind Sie von Interview zu Interview geeilt, haben tausende Antworten gegeben. Welche Frage können Sie nicht mehr hören?

Ich finde keine Frage schlimm. Ich beschwere mich ja auch nicht, dass ich jetzt Aufmerksamkeit finde. Auch dafür habe ich ja immer gekämpft: Anerkennung für meine Leistung zu kriegen.

Sie haben sich in diesem Jahr viele Ihrer größten Träume erfüllt. Wie hat Sie das als Mensch und Sportler verändert?

Als Mensch habe ich mich gar nicht verändert. Als Spielerin bin ich viel selbstbewusster geworden. Ich weiß, was ich kann. Ich weiß, dass ich große Leistungen in großen Spielen zeigen kann. Das Gefühl, seine ganze Karriere gedreht zu haben, ist auch ein ziemlich gutes Gefühl.

Macht dieses Gefühl die Erfolge noch wertvoller?

Mir ist nichts geschenkt worden. Ich bin durch einige tiefe Täler marschiert, bevor es dann aufwärtsging. Zwischendurch hatte ich selbst den Glauben verloren, dass es nach oben gehen kann für mich. Es ist schon eine verrückte Geschichte, diese letzten fünf Jahre vom Fast-Aufhören bis auf Platz 1.

Grand Slam-Siege, olympische Silbermedaille, der Sprung auf Platz eins – das hat Sie sehr bekanntgemacht. Dabei hat man den Eindruck, Sie wollen eigentlich nicht gerne eine öffentliche Person sein.

Ich war niemand, der sich früher in den Mittelpunkt drängte. Der diese Öffentlichkeit unbedingt brauchte. Aber ich genieße jetzt auch mal eine schöne Feier, einen tollen Event. Das ist für mich auch eine Belohnung für die harte Arbeit, die ich investiere.

Berühmte Vorgänger wie Steffi Graf oder Boris Becker klagten auf der Höhe ihres Ruhms über ein Leben im goldenen Käfig. Wie sind Ihre Erfahrungen bisher?

Ich fühle mich nicht irgendwie gefangen, auf keinen Fall. So ist es nicht. Ich will mich da auch nicht mit Steffi oder Boris vergleichen. Natürlich war der Rummel nach dem Australian-Open-Sieg unheimlich groß, da stürzte eine Welle über mich drüber, es war wirklich überwältigend. Aber du musst das als Teil des Jobs akzeptieren, wenn nicht, hast du ein Problem als Spitzenspielerin.

Als Nummer eins, auch vorher als Top-Ten-Spielerin kann man sich irgendwie nie zurücklehnen, verschnaufen, ausruhen. Es gibt auch unzählige Verpflichtungen neben dem Centre Court...

Anfangs ist das eine enorme Belastung gewesen, etwas völlig Neues, Ungewohntes. Nun habe ich das sehr gut im Griff, auch weil man gewisse Automatismen entwickelt, nicht so viel Kraft investieren muss. Vieles läuft einfach wie von selbst ab. Aber ich klage nicht darüber: Ich wollte dahin, und nun erfülle ich da auch meine Pflichten.

Sind Sie misstrauischer geworden im Umgang mit anderen?

Ich hoffe nicht. Ich spüre umgekehrt auch keinen Neid mir gegenüber. Oder jemanden, der mir den Erfolg nicht gönnt.

Sie gelten ja auch als Perfektionistin, die sich selten mit dem Erreichten zufriedengibt? Wie blicken Sie da aufs Jahr 2016 zurück?

Ich war immer äußerst ehrgeizig, hatte sehr hohe Ansprüche an mich selbst. Das war auch nötig, um es überhaupt ins Profitennis zu schaffen. Es ist wichtig, immer das Beste zu wollen, auch wenn man nicht immer das Beste schafft. Und man muss aufpassen, dass da kein lähmender Druck oder Verkrampfung entsteht. Ich brauchte meine Zeit, bis ich meine Ambitionen in die richtige Richtung lenken konnte. Das Jahr 2016? Es war perfekt für mich. Ein Traum. Einfach grandios.

Denken Sie manchmal: Wäre ja ganz schön gewesen, schon Anfang 20 weiter gewesen zu sein?

Nein. Ich finde es genau richtig, wie es gekommen ist. Dieses Jahr 2016 war der Zielpunkt meines langen Marschs. Und was auf diesem Marsch passiert ist, will ich auch gar nicht missen. Es ist heute ganz normal im Tennis, dass die großen Erfolge erst später kommen, manchmal jenseits der 30.

Von dem Punkt 2011, Mitte der Saison damals, als Sie in einer Krise aufhören wollten, bis zu den Erfolgen dieses Jahres: Was war der wichtigste, der entscheidende Faktor für diesen Aufschwung?

Dass ich nie, nie, nie aufgegeben habe, auch wenn es schwer war für mich. Und dass ich Menschen um mich herum hatte, die an mich geglaubt haben und die mich ohne Wenn und Aber unterstützten.

Noch einmal zurück zu den Erfolgen in diesem Jahr 2016? Was war der größte Moment? Einer der beiden Grand Slam-Siege oder der Sprung auf Platz eins?

Der Doppelschlag in New York, US Open und Platz 1, der war schon herausragend. Aber die Olympischen Spiele waren eine besondere emotionale Erfahrung, einfach weil es ein Kindheitstraum war, einmal eine Medaille zu gewinnen. Sportlich war auch sehr wichtig, den Porsche Grand Prix in Stuttgart gewonnen zu haben. Das war der Moment, wo die schweren Monate nach dem Australian-Open-Sieg vergessen waren. Wo ich wusste: Ich kann das alles schaffen. Ich werde oben bleiben.

Gibt es noch diese Momente, wo Sie aufwachen und denken: Mensch, ich bin die Nummer eins der Welt, Wahnsinn?

Es ist immer noch ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Und es gibt keine Sekunde, in der ich das alles nicht genieße.

Wie schwer ist es, sich am Ende dieser langen, mörderischen Saison noch für die WM hier in Singapur zu motivieren?

Es war das schönste, aber auch härteste Jahr meiner Karriere. Aber alle Spielerinnen spüren diese Saison in den Knochen. Jetzt gilt es, noch einmal alle Kraft hier in Singapur zu mobilisieren. Ich will hier gewinnen und mich als Nummer 1 bestätigen.

Danach können sie endlich mal länger in Urlaub gehen? Können Sie in den Ferien total abschalten – oder denken Sie da auch schon wieder an all das, was im nächsten Jahr kommt, die Verteidigung des Tennis-Throns und der Toptitel?

Abschalten, das geht nicht auf Knopfdruck. Es braucht immer seine Zeit, bis man von diesem massiven Stress runterkommt – zwei, drei Tage auf jeden Fall. Und dann merkst du aber, da sitzt jetzt eben keiner mehr hinter dir, der sagt: Essen! Kraftraum! Training! Plötzlich wird alles entspannter, man schläft besser, man denkt nicht mehr dauernd an Tennis.