Amsterdam. „Levenslieder“ sind Kult – Urgemütliche Musikkultur findet sich im Amsterdamer Jordaanviertel.

Rijksmuseum, Rotlichtviertel „Walletjes“ oder die „Waage“ sind touristische Ziele für den schnellen Blick auf Amsterdam. Das eigentliche Herz der Stadt pocht aber woanders.

Wenige Schritte von Anne-Frank-Haus und „Westerkerk“ entfernt, beginnt auf der anderen Seite der Prinsengracht das

Jordaanviertel mit seinen nostalgischen Musiklokalen. Das ehemals heruntergekommene Armenquartier ist heute Hollands originellster Kiez. Da ist Musik drin.

Zwischen 18 und 80 singen alle gemeinsam bekannte Lieder

„Levenslieder“ (Lebenslieder) nennen Amsterdamer zu Akkordeon und Gitarre geschmetterten Volksweisen, Balladen und Rührstücke, die zum Träumen und Weinen, zum Lachen und meistens zum Schunkeln sind. Dass

die hemmungslos sentimentalen

„Levenslieder“ als Exportschlager nicht taugen und außerhalb der eigenen Grenzen kaum bekannt sind, schert die Jordaanesen wenig. Kein Wunder. Für die Musik nach Art des Hauses bedarf es erstens der Intimität einer Amsterdamer Kneipe, zweitens Sangesfreude sowie eines unbefangenen, selbstbewussten Umgangs mit dem trivialen Liedgut. Befürchtungen, im Jordaanviertel könnten Heintje, Jantje Smit oder Vader Abraham eine Renaissance feiern und ihr musikalisches Unwesen treiben, sind allerdings unbegründet.

An Freitagabenden ab 22 Uhr ist das Café De Twee Zwaantjes (Die zwei Schwäne) an der Prinsengracht 114 rappelvoll. Zwei leidenschaftlich aufspielende Akkordeonisten begleiten die vom Publikum mit Inbrunst vorgetragenen Lieder von Liebe und Verlust, Sorgen und Hoffnungen und immer wieder von „ihrem“ Jordaan und Amsterdam. Männer und Frauen zwischen 18 und 80 Jahren halten ihren Partner fest im Arm.

Mit dem Bierglas in der Hand singen, nein, klagen sie wehmütig, „Wenn ich dir morgen nicht mehr schreibe …“ Dann wird es leise in dem schummrigen Lokal. Hausherrin Trees Ruzette greift hinterm Tresen zum Mikrofon, streift ihre braunen Locken zurück, nickt den Akkordeonspielern stumm zu und singt mit schmachtendem

Vibrato „Es ist so still in Amsterdam“. Die Gäste singen und summen ergriffen mit, einem älteren Herrn kullern Tränen über die Wangen. Zwei Damen fordern lautstark die Hymne „Geef mij maar Amsterdam“ („Ich will nur Amsterdam“) des 1989 verstorbenen Grachtentroubadours Johnny Jordaan. Als die Akkordeons die vertraute Melodie vorgeben, stimmt die Kneipenschar begeistert ein.

Trees hat wieder das Mikrofon mit dem Zapfhahn getauscht. Während der Saft in Strömen fließt, erzählt die Wirtin die Geschichte von ihrem Quartier und seiner unaufgeregten Musik. Wie der Jordaan zu seinem Namen kam? Das sei eine Glaubensfrage. Die einen meinen, französische Hugenotten hätten vor 330 Jahren das Viertel wegen seiner vielen nach Blumen benannten Straßen „Jardin“ (Garten) genannt. Bibelfeste Zeitgenossen vertreten eher die Ansicht, der Stadtteil sei nach dem gleichnamigen biblischen Fluss benannt.

Ihre Kneipe erlebe das Kommen und Gehen seit 90 Jahren, berichtet Trees stolz. Sicher, im Laufe der Jahrzehnte habe sich der Sound verändert. In den 1930er-Jahren hätten Italiener, Franzosen und Portugiesen mit ihrer Volksmusik den Ton angegeben. Auch Opern und Operetten zählten zum nächtlichen Repertoire. Später, in den 60ern, seien die typischen Jordaanschnulzen entstanden. Als verklärende Erinnerung an eine Zeit, in der sich einfache Leute zu Geselligkeit und Musik trafen, um der alltäglichen Müh und Plag für ein paar Stunden zu entfliehen, genießen diese Lieder heute Kultstatus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Stadtrat beschlossen, den Charakter des Jordaan bei der Sanierung zu bewahren. Anstelle der Tagelöhner, Arbeiter und Handwerker zog es aber Künstler, Lebenskünstler und Intellektuelle in die renovierten Stuben – und die fanden Gefallen an den rührseligen Melodien. Die bekanntesten Interpreten jener herzergreifenden „Smartlappen“ waren Johnny Jordaan und Tante Leen. An

sie und einige andere Originale

erinnert an der Prinsen-/Ecke Elandsgracht auf dem Johnny Jordaan Plein ein Denkmal.

Vom Kirchturm schlägt es Mitternacht. Donnerstags geht es zu dieser Stunde vier Straßenecken vom „Zwaantjes“ entfernt in der Westerstraat 109 hoch her. Das Café Nol ist seit über 40 Jahren eine in Rotlicht getauchte plüschige Institution für Herz-Schmerz-Abende. Hauptsächlich jüngere textsichere Damen und Herren sind ganz aus dem Häuschen, wenn der cool aussehende Sänger auf der winzigen Bühne Johnny Jordaan mit dessen typischen Amsterdamer Akzent imitiert.

Ach, Johnny! Ein Objekt der Begierde ist der singende Kellner, der im Alter von nur neun Jahren ein Augenlicht verlor, nie gewesen. Auch nach seinem Tode hat der Mann mit dem eckigen Brillengestell in Fragen Stil und Chic das Nachsehen gegenüber seinen smarten Nachahmern. Dafür punktete der niederländische Heinz Schenk mit Charme, Humor und Originalität sowie seinem glaubhaft gesungenen Bekenntnis „Lieber mittellos in Amsterdam als Millionär in Paris“. Geld wie Heu war auch nie das Ziel von Tante Leen (1912–1992), der 1956 bei einem Talentwettbewerb die Herzen zuflogen. Ihren größten Erfolg feierte die singende Putzfrau als sie „Oh Johnny“ schmachtete und mit Mijnheer Jordaan zum Traumduo in Amsterdam avancierte.

Den Spuren der Evergreens nur nachts zu folgen, käme indessen einer Missachtung anderer liebenswerter Plätze, Winkel und Einrichtungen im Jordaan und seiner Nachbarschaft gleich: Tulpenmuseum, beschauliche Hofjes (Hinterhöfe), ausgefallene Läden, trendige Bars oder Restaurants wie das „Café t’small“ mit seiner Uferterrasse an der Egelantiersgracht. Von hier sind es nur zehn Gehminuten bis zur Straßenbahnhaltestelle bei der Westerkerk.

15 Minuten später hält die Linie 16 auf der Albert Cuypstraat südlich des Grachtengürtels. Auch „De Pijp“ war ein Arbeiterbezirk und ist nun lebhaftes Zuhause einer multikulturellen Gemeinschaft von Händlern, Künstlern, Freaks und Immigranten.

Seinen Namen „Röhre“ verpasste der Volksmund dem Stadtteil, weil Ende des 19. Jahrhunderts ein von 20 Mühlen gesäumter langer Graben den Bezirk dominierte. Der zugeschüttete, bebaute Kanal wurde zur Albert Cuypstraat und längsten und grellsten Marktmeile in Holland. Zwischen Schuhen, Möbeln, Erotikartikeln und Accessoires tauchen Hering mit Gurke, Gewürze, Tapas, Früchte und afrikanische Spezialitäten die Nase in ein Wechselbad der Düfte.

Einen Steinwurf entfernt vom herrlich nostalgischen Soul- und Jazzclub Badcupy steht an der Ecke der Eerste Sweelinckstraat das Denkmal von André Hazes. Der Lebemann und Interpret zuckersüßer Liebeslyrik schluchzte seine Lieder zunächst als akustischer Lockvogel für Händler auf dem Cuyp Markt, schaffte es aber später bis in die Top Ten. Als das Stadtteil-Idol 2004 im Alter von 53 Jahren starb nahmen im Stadion des Fußballklubs Ajax Amsterdam 50 000 Menschen Abschied von ihrem „Volksjongen“.

Je später der Abend, umso trauriger die Musik. Im Café

Verhoeff (Zeedijk 12) lauschen Nachtschwärmer dem Spiel von Harmonika und Gitarre. Auf ein Zeichen der Musiker schlagen sie Textbücher auf, besingen Abende an Grachten und erinnern sich mit Wehmut: „Sie sagte nicht einmal, ich liebe dich!“