Tallinn. Tallinn, die Hauptstadt Estlands, beeindruckt durch die Mischung von mittelalterlichem Flair und szeniger Moderne.

An einem Aussichtspunkt auf der alten Stadtmauer von Tallinn steht ein Mann in mittelalterlicher Tracht, singt und begleitet sich dazu auf der Gitarre. Zunächst stimmt er die kommunistische Hymne „Internationale“ auf Estnisch an. Dann folgt auf Deutsch Heinrich Heines „Loreleylied“. Ost und West, Vergangenheit und gerade erst vergangene Gegenwart. Das passt zu der Hauptstadt von Estland, die bis 1918 Reval hieß. An vielen Plätzen kann man hier Zeugnisse der wechselvollen Geschichte der Stadt und des nördlichsten Landes des Baltikums finden, das von Dänen, Schweden, Russen und Deutschen regiert wurde.

Das historische Zentrum Tallinns ist der Domberg. Dort begann der dänische König Waldemar II. im 13. Jahrhundert mit dem Bau einer Domkirche. Wenig später holte der Schwertbrüderorden westfälische und niedersächsische Bauern in die Stadt, die 1230 nach lübischem Recht gegründet wurde. Der römische Dichter Tacitus hatte die Esten allerdings schon im 1. Jahrhundert nach Christus erwähnt. Noch heute findet man zahlreiche Spuren der Hanse in der Stadt. Es gibt ein mittelalterlich gestyltes Restaurant namens „Olde Hansa“. In der Püha Vaimu kirik (Heiliggeistkirche) steht ein Schrankaltar des Lübecker Künstlers Bernd Notke von 1483, in der Niguliste kirik (Nikolaikirche) hängt sein berühmtes Bild „Totentanz“.

Sowohl in Lübeck als auch in Tallinn reklamiert man für sich, das Marzipan (Estnisch: Martsipan) erfunden zu haben. Das ist aber wohl doch eher ein touristischer Schaukampf, denn wahrscheinlich kam die kalorienreiche Süßspeise aus dem Orient. Wer immer auch recht hat: Es ist zugleich ein Beispiel für die vielen Lehnwörter aus der deutschen Sprache, die man bis heute im melodiös klingenden Estnisch findet.

Im Zentrum der Altstadt,
die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, steht das Rathaus. Das einzige gotische Gebäude dieser Art in Nordeuropa stammt aus dem 15. Jahrhundert. Rund um den Platz vor dem Rathaus haben Restaurants ihre Sommerbestuhlung aufgebaut, und zahlreiche Koberer versuchen, die Touristen ins Terrain ihrer Arbeitgeber zu locken. Estland ist ein Biertrinkerland, ein Glas estnisches Pils kostet dort etwa fünf Euro. Früher, erzählt Stadtführerin Alaver, hätten auch Kinder Bier zu trinken bekommen. „Wegen der Pest musste es vorher aber abgekocht werden.“ Zurzeit setzt die sehr lebendige und experimentierfreudige Gastronomieszene stark auf die in kleinen Brauereien produzierten Craft-Beer-Sorten.

In der Nähe vom Rathaus, etwas abseits des Getümmels, erinnert der „Pfad der Geschichte“ an die wechselvolle Historie der Stadt und des Landes. Große in den Boden eingelassene Granitplatten markieren wichtige Ereignisse. Los geht es mit dem Ende der Eiszeit in Estland (10 500 v. Chr.) und den ersten menschlichen Siedlungen dort (9000 v. Chr.). Eine Platte erinnert an das erste estnische Buch (1525 n. Chr.), die erste Kinovorführung (1896) und die erste Ausrufung der Republik Estland (1918). Er kündigt bereits eine Sonnenfinsternis an (2136) und den 500. Geburtstag des Landes (2418).

In Kalamaja leben viele Hippies und junge Familien

Jenseits der von dicken historischen Mauern umgebenen Altstadt ist es reizvoll, mehr von Tallinn zu erfahren. Hier lebt der Großteil der 440 000 Einwohner. Direkt vor der Mauer liegt das ehemalige Arbeiter- und heutige Szeneviertel Kalamaja. Hier betreibt die junge Estin Anne Alliksoo einen Fahrradverleih und bietet Touren durch die Stadt an. Die 25-Jährige ist Tochter einer Russin und eines Esten. Das Verhältnis zwischen beiden Volksgruppen – rund ein Viertel der Einwohner Estlands sind Russen – sieht sie, anders als viele ältere Bewohner, ganz entspannt. Ein Graffito an der Mauer der Meeresfestung, in dem der Verleih untergebracht ist, zeigt einen muskulösen Mann mit Stirnband und Schwert über der Schulter, der auf Beinprothesen steht. „Das ist Kalevipoeg“, erklärt sie. Der Riese ist Protagonist des gleichnamigen estnischen Nationalepos. „Kalevipoeg war sehr stark, aber nicht sehr schlau.“ Deshalb hat der estnische Graffito-Künstler, der bestimmt auch das eine oder andere Banksy-Bild und Filme mit Arnold Schwarzenegger gesehen hat, dem Riesen einen kleinen Igel mit Laptop an die Seite gestellt.

Wir fahren durch Straßen mit den typischen Holzhäusern. Die meisten könnten dringend einen neuen Farbanstrich vertragen. Während die Schweden bei ihren Holzhäusern ein besonderes Faible für die Farbe Ochsenblutrot entwickelt haben, stehen die Esten mehr auf ein blasses Gelb. Die ehemaligen Arbeiterhäuser sind zurzeit sehr angesagt. „Viele Hippies und Familien leben heute hier“, sagt Anne.

Der Strand davor war zu Sowjetzeiten Sperrgebiet, um die Esten von möglichen Fluchten abzuhalten. Nicht weit davon entfernt steht Kultuurikatel (Kulturofen), ein ehemaliges Kraftwerk, das heute als Zentrum für Alternativkultur aller Art genutzt wird. Von da geht die Tour weiter zur Roterman City, einem postmodernen Vorzeigeviertel, dem ersten renovierten Industriegebiet in Tallinn. Aufgemotzte ehemalige Fabrikgebäude treffen hier stilvoll und teuer auf Stahl und Glas.

Am anderen Ende von Kalamaja liegt der ehemalige Wasserflughafen. Am Anleger dümpelt der historische Dampfeisbrecher „Suur Töll“. Der große freitragende Hangar aus dem Jahr 1916 beherbergt das bei der Bevölkerung sehr beliebte Meeresmuseum. Gleich nebenan, in einer ehemaligen U-Boot-Fabrik, hat der US-amerikanische Regisseur Robert Wilson vor zwei Jahren die Komposition „Adam’s Passion“ des bekanntesten lebenden estnischen Klassikkomponisten, Arvo Pärt, als Musiktheater inszeniert.

Jenseits der Hauptstadt kann man eine völlig andere Seite des Staates erkunden. Im Lahemaa National Park, etwa auf halbem Weg zwischen Tallinn und Narva, der Grenzstadt zu Russland, liegt der Vihula Manor Country Club & Spa, ein ehemaliges Gut aus dem 16. Jahrhundert. Der vor wenigen Jahren für angeblich 25 Millionen Euro renovierte Country Club ist gediegen, um nicht zu sagen luxuriös. 26 Gebäude schmiegen sich in eine gepflegte Naturlandschaft.

Einen besonders engen Kontakt pflegen die Tallinner zu den nur 80 Kilometer entfernten Nachbarn aus Finnland. Viele Esten arbeiten dort. Die Finnen waren lange für ihren „Wodka-Tourismus“ berüchtigt, der jetzt aber eher mit den baltischen Nachbarstaaten Lettland und Litauen abgewickelt wird. Dennoch gibt es auch heute noch in Estland Wodka im Sechserpack.