Verona. Im Frühling ist Verona ein Pilgerziel für Verliebte. Hunderte drängen sie sich unter dem Balkon, der bei Shakespeare gar nicht vorkommt.

Julia hat braune Locken. Etwa schulterlang. Sie trägt Jeans, ein trägerloses Top und eine goldene Halskette. Und sie hat ein Samsung-Handy. War Shakespeares Julia ihrer Zeit voraus? Wer im Hof von Veronas Via Capello 27 steht, der könnte glatt zu dieser Auffassung gelangen. Oben auf dem winzigen Balkon tritt wenige Augenblicke später Julias Romeo, blau gestreiftes Poloshirt und verspiegelte Sonnenbrille, zu ihr, schlingt seine Arme um sie, und beide strahlen. „Un bacio“, ein Kuss, ruft einer aus der Menge.

Zu Hunderten stehen Touristen Schlange, um ein Foto von dem ein mal drei Meter großen Balkon zu machen. Meist haben sie dabei Glück, und irgendein verliebtes Paar aus Mailand, Mumbai oder vielleicht aus Shanghai hat die sechs Euro Eintritt in die Casa di Giulietta nicht gescheut, lässt sich dann von Freunden auf dem berühmten Balkon fotografieren sowie von Hunderten wildfremden Menschen.

Das „Haus der Julia“ im Herzen von Verona ist einer der ungewöhnlichsten Orte in Italien – frei erfunden und doch Ziel von Millionen. Der mittelalterliche Bau, der Pate gestanden haben soll für die berühmten Szenen in Shakespeares Tragödie Romeo und Julia, versteckt sich nahe der malerischen Piazza delle Erbe hinter einem unscheinbaren Torbogen. Unscheinbar ist gut. Der Torbogen mag es sein. Die Menschentrauben, die sich vor dem Haus auf der Gasse bilden, sind es nicht. Jedes Jahr betreten zwei Millionen Touristen den Hof, etwa 300 000 besichtigen das Haus.

Die Bronzestatue im Hof soll

Glück in der Liebe bringen

Auf dem Balkon soll Julia einst auf den aus der verfeindeten Montague-Familie stammenden Romeo gewartet haben. Doch was längst nicht alle wissen oder wahrhaben wollen: Alles ist Fake. Der berühmte Balkon wurde nachträglich an das Haus angebaut – mehr als 300 Jahre nachdem Shakespeare sein Stück 1597 veröffentlicht hatte. Die Balkonszene in Graf Capulets Garten wird noch heute so genannt, obwohl von Shakespeare gar kein Balkon erwähnt wurde. Im Originalskript heißt es in der zweiten Szene
des zweiten Aktes lediglich, dass Julia „oben am Fenster“ gestanden habe.

„Der Balkon ist ein Artefakt der 1920er-Jahre“, gibt auch Sara Pisani zu. „Historisch ist nicht belegt, dass es sich um den Ort aus Shakespeares Tragödie handelt.“ Pisani muss es wissen, denn seit Jahren arbeitet sie für das veronesische Fremdenverkehrsamt. Die wahre Geschichte geht ganz anders: Weil die Veroneser es dick hatten, Besuchern aus der ganzen Welt erklären zu müssen, dass es den berühmten Balkon aus Shakespeares Tragödie eigentlich gar nicht gab, ließen sie von Architekt Antonio Avena kurzerhand dieses schmucke Exemplar an das Haus anbauen.

Direkt unter dem Balkon steht heute die berühmte Bronzestatue der Julia des Bildhauers Nereo Costantini. Ihr Anblick soll Glück bringen, vor allem in der Liebe. Hunderte sieht man deshalb davor stehen, Julia ans Revers fassen, Fotos machen. Überall im Hof haben Verliebte Liebesschlösser an die Stahlgitter angebracht. Roberto und Rosana aus Paraguay waren hier. Max und Marie. Tino und Lulu. Die Wand links und rechts des Torbogens ist mit Liebessprüchen verschmiert. Direkt daneben hängt ein feuerroter Briefkasten für die „Posta di Giulietta“, Liebesbriefe an Julia. Ebenfalls in dem winzigen Hof: ein Souvenirladen mit Postkarten, Häkeldecken, Backhandschuhen. Es dürfte der meistfrequentierte in Verona sein.

Ganz genau nimmt man es in Verona nicht, auch nicht mit etwas so Romantischem wie der Liebe. Doch das macht nichts. Auch ohne historischen Beleg hat sich die Stadt zu einer Pilgerstätte für Verliebte entwickelt. Besonders im Frühling. „Diese Jahreszeit ist besonders wichtig für uns“, sagt Pisani. Und die Stadt hat viel dafür getan: Verona bewirbt sich selbst als „City of Love“ und hat Romeo und Julia diverse Aktivitäten gewidmet: Theaterfestivals, Lesungen und sogar einen Wettbewerb, bei dem Liebesbriefe aus der ganzen Welt an Shakespeares Heldin geschrieben werden. Natürlich gibt es auch einen romantischen Stadtrundgang für Verliebte. Dafür hat die Stadt eigens den Flyer „Auf Julias Spuren“ aufgelegt.

Doch, das muss gesagt sein, auch ohne all das ist Verona eine Stadt fürs Herz. Wer durch die Gassen schlendert, der erkennt sie tatsächlich wieder, die Orte aus Shakespeares berühmter Tragödie: die steinernen Brücken, die mittelalterlichen Piazze, das Zwielicht der Hinterhöfe, die Stadtpaläste.

Kurioserweise ist nur auf Julias Balkon keine Zeit für Romantik. Dort treten die moderne Julia und ihr Romeo schon nach ein paar Selfies wieder ab. Noch ein Küsschen für das letzte Bild. Das war’s. Die Nächsten, bitte.