Sexten. Kanonen, Stacheldraht und Baracken – in Südtirol und im Trentino treffen Bergsteiger auf die Spuren des Ersten Weltkrieges.

Ein alpinistischer Mythos sind die Via Ferrata, die Klettersteige in den italienischen Dolomiten. Jeden Sommer wagen sich zahllose Touristen auf adrenalinhaltige, äußerst spektakuläre, im Vergleich zum freien Klettern aber relativ risikoarme Touren: über straff gespannte Drahtseile, die an senkrechten Felswänden in luftige Höhen führen, manchmal auch nur in der Horizontalen das Queren von Felsbändern absichern; über stählerne Leitern, Stifte und Klammern zum Drauftreten da, wo der Fels keine Tritte mehr hat, sogenannte Hühnerleitern aus Holzbohlen, über pendelnde Drahtseilbrücken über abgrundtiefe Felsspalten und Wasserfälle, sogar in den Fels gesprengte Tunnel und Galerien. „Relativ risikoarm“ ist hier wiederum sehr relativ, denn die größte Gefahr am Berg liegt, ähnlich wie beim Tauchen und anderen Abenteuersportarten, nicht in den äußeren Risiken, sondern in menschlicher Unzulänglichkeit.

Viele Klettersteige wurden im Ersten Weltkrieg angelegt

Alpingeschichtlich ist die Vergangenheit der Via Ferrata ebenso spannend wie wechselvoll: Sehr viele von ihnen wurden im Ersten Weltkrieg angelegt, sie dienten weniger dem Alpinsport als vielmehr dem möglichst effektiven Töten des Gegners. Auf bis über 3000 Meter Höhe kletterten italienische Alpini und österreichische Kaiserjäger, um sich einen ähnlich blutigen Stellungskrieg zu liefern wie Franzosen, Deutsche und Briten vor Verdun. Vieles, was damals geschah, mutet heute wie militärischer Wahnsinn an: An der Tofana di Rozes, einem der imposantesten Dolomitengipfel, legten die Österreicher eine Stellung an, welche die Italiener einnahmen, nachdem sie unbemerkt einen 400 Meter langen Sprengtunnel im 45-Grad-Winkel durch den Berg getrieben hatten.

Dieser Tunnel ist heute Teil einer touristisch genutzten Steiganlage, der Via Ferrata Giovanni Lipella, einem der schönsten, aber auch anspruchsvollsten Klettersteige der Alpen. Die Österreicher wiederum ließen 1918 von russischen Kriegsgefangenen drei technisch bereits völlig veraltete Kanonen auf über 3000 Meter Höhe auf eine Gletscherfläche unterhalb des Cevedale schaffen, um die Stellungen der Italiener beschießen zu können. Die „Tre Canoni“ sind heute beliebtes Ziel für Gletscherwanderer. Reinhold Messners Versuch, die Kanonen zu bergen um sie in ein Museum zu schaffen scheiterte am erheblichen Gewicht der Geschütze.

Auch das höchstgelegene Museum Europas erzählt vom Krieg

Zum Mythos der Klettersteige gehört, dass diese generell aus militärischen Steiganlagen hervorgegangen seien und der Klettersteig im Ersten Weltkrieg erfunden wurde. Trotz der makabren Vorgeschichte vieler Via Ferrata bleibt jedoch diese Annahme nichts als eben – Mythos. Schon 1903 war der Hans-Seyffert-Weg auf die Marmolada, den in der Punta Prenia mit 3342 Metern höchsten Gipfel der Dolomiten überhaupt als rein touristischer Steig angelegt worden. Bis vor wenigen Jahren erfolgte die Anfahrt zu diesem Klettersteig über eine sehr urige Seilbahn mit Stahltonnen anstelle von Kabinen. Erst in den Jahren 2004/2005 wurde diese durch eine moderne Anlage ersetzt; das in die Seilbahnstation Serauta integrierte Gebirgskriegsmuseum ist mit 2950 Metern Seehöhe das höchstgelegene Museum Europas.

Der Krieg im Hochgebirge wurde nicht nur sehr brutal geführt, sondern folgte auch nicht immer rationalem strategischem Kalkül, sondern den martialischen Ehren- und Männlichkeitsvorstellungen jener Zeit. So wurde der Kampf nicht nur um strategisch wichtige Pässe und Straßen geführt, sondern um die Gipfel der höchsten Berge: den Ortler, die Tofana di Rozes, die Drei Zinnen, die Marmolada. Bei Klettertouren auf den Paternkofel und die Große Zinne hatte ich Gelegenheit, die einst militärischen Anlagen zu begehen. Es mutete unheimlich an, durch enge Stollen zu kriechen, in denen Italiener und Österreicher sich teils auf Revolverschussentfernung gegenüber standen und das großartige Massiv der Drei Zinnen durch eine in den Fels gesprengte Schießscharte zu betrachten.

Unter Nutzung militärischer Steiganlagen führt heute der De-Luca-Innerkofler-Klettersteig auf den Gipfel des Paternkofels (2744 Meter). Er wurde benannt nach dem früheren Wirt der Drei-Zinnen-Hütte und bedeutendem Gipfelpionier Sepp Innerkofler, der hier am 4. Juli 1915 fiel und Piero de Luca, der sich rühmte, ihn getötet zu haben. Der Rückweg berührt teilweise den Sentiero de la Pace, den Friedensweg. Dieser Weg folgt weitgehend den Frontlinien des Ersten Weltkrieges von Sexten im Drei-Zinnen-Gebiet bis zum Ortler im Westen. Für mich waren das großartige Klettersteigtouren in einer imposanten Felslandschaft – und den Narben des Krieges.

Die Alpini und Gebirgsjäger, die hier litten und starben hätten sich wohl nicht träumen lassen, dass ihre Steige und Stollen einmal Touristen zum Genussklettern dienen würden.