Schweiz. Die Jungfraubahn führt zum höchstgelegenen Bahnhof Europas und feiert am 1. August 100. Geburtstag.

An klaren Tagen schimmert die weiße Bergkette der Alpen am Horizont von Bern. Nach einem Wochenende in der mittelalterlichen Altstadt mit den Bogengängen, prächtigen Brunnen und der „Zytglogge“, dem Zeitglockenturm mit seinem Figurenspiel, zieht es Besucher zu den majestätischen Gipfeln in der Ferne.

Herausragend die Bergspitzen von Eiger, Mönch und Jungfrau, das Dreigestirn der Berner Alpen, unzugänglich noch bis ins 19. Jahrhundert. 1811 gelang die Erstbesteigung der Jungfrau, mit 4158 Metern einer der höchsten Berge im Berner Oberland, viel später die von Mönch und Eiger, die der berüchtigten Eigernordwand erst 1938.

Wenn heute der Berg ruft, spaziert man einfach zum Berner Bahnhof und bucht die Tour „Top of Europe“, das ist die Endstation am Jungfraujoch, wenige hundert Meter unterm Gipfel. Der Zug fährt am schönen Thunersee entlang nach Interlaken. Von dort geht es mit einer Zahnradbahn weiter durch die großartige Felslandschaft von Lauterbrunnen mit Wasserfällen und tiefen Tälern.

Fünf Minuten später passiert man Wengen. Dächer und Berge ringsum sind schon schneebedeckt. Die Gletscher rücken ganz nah. Am Fuße des Eigergletschers in der Station Kleine Scheidegg auf 2061 Metern Höhe heißt es Umsteigen in die roten Waggons der Jungfraubahn.

Nur zwei Kilometer steigt die Bahn durch Schnee und Eis, bevor sie in einem 7,5 Kilometer langen, aus dem Fels gehauenen Tunnel Eigerwand und Mönch durchquert. Zweimal hält der Zug an Aussichtsstationen, wo die Passagiere durch Panoramafenster in ein wogendes Eismeer schauen können. 50 Minuten dauert die Fahrt bis zur Endstation, die im Innern der Bergspitze Sphinx neben dem Jungfraujoch liegt. Und wäre nicht die klirrende Kälte, man würde kaum glauben, dass man soeben im höchstgelegenen Bahnhof Europas auf 3454 Metern Höhe gelandet ist – stolz „Top of Europe“ genannt.

Als die Jungfraubahn vor 100 Jahren, am 1. August 1912, eröffnet wurde, galt sie als Wunderwerk der Technik. Von Anfang an wurde sie mit Elektrizität betrieben, damals eine Sensation. Die entscheidende Idee zu dieser Bahnstrecke hatte Adolf Guyer-Zeller. Bei einer Alpenwanderung soll ihn der Blick auf das Dreigestirn so beeindruckt haben, dass er in seinem Tagebuch den Konstruktionsplan einer himmelstürmenden Zahnradbahn skizzierte.

Im Eisenbahnfieber jener Zeit waren viele Bergbahnen vom Tal in die Schweizer Alpen hinauf gebaut worden, und Guyer-Zeller war nicht der erste, der von einer Jungfraubahn träumte. Doch im Unterschied zu anderen schlug er vor, die Strecke nicht im Tal, sondern auf der Kleinen Scheidegg beginnen zu lassen, sie durch einen Tunnel zu führen, um sie vor Unwettern zu schützen, und sie mit bestehenden Bahnen zu verbinden.

Nachdem er im Parlament die Konzession errungen hatte, begann der Bau der Jungfraubahn 1896 – sieben Jahre Bauzeit und zehn Millionen Schweizer Franken Kosten waren veranschlagt. Am Nordrand des Eigergletschers entstand auf 2320 Metern Höhe ein Basislager aus Häusern und Baracken für 300 Arbeiter, die den Tunnel in Schichten rund um die Uhr vorantrieben.

Im Winter war die Siedlung von der Außenwelt abgeschnitten, so dass enorme Mengen Vorräte im Herbst heraufgeschafft werden mussten. Durch geologische und finanzielle Probleme, auch tödliche Unfälle, dauerten die Bauarbeiten 16 Jahre, die Kosten beliefen sich letztlich auf 15 Millionen Schweizer Franken. Guyer-Zeller selbst konnte die Erfüllung seines Traums nicht mehr erleben. Er starb 1899 an einem Herzschlag im Alter von 60 Jahren.

Heute profitieren eine halbe Million Touristen im Jahr von dieser Möglichkeit, die Alpen zu erleben, ohne Alpinist zu sein. Auf dem Bahnhof im Innern eines Berges angekommen, erfasst manche Besucher in dieser Höhe ein leichter Schwindel, wenn sie durch den Stollen zur Eingangshalle gehen. Die Schritte werden langsamer, und es atmet sich schwer.

Tourbegleiterin Annemarie Sterch lotst ihre kleine Gruppe zu einer Nahsicht auf den Großen Aletschgletscher, der sich auf der Walliser Seite gigantische 22 Kilometer gegen das Rhônetal zieht.

Weiter geht’s durch den Ice-Gateway in den Eispalast. Spiegelglatt ist es in dem 1000 Quadratmeter großen Labyrinth aus purem Eis, sechs bis zehn Meter unter dem Gletscher. In den Gängen sieht man Tierskulpturen eines Künstlers aus Interlaken, manche durchsichtig wie Glas, andere milchig. „Wenn mehr als 2000 Menschen pro Tag den Eispalast besuchen, müssen wir ihn herunterkühlen“, sagt Annemarie, „sonst fängt das Eis durch die Ausdünstung an zu schmelzen“.

Die unvergesslichsten Momente erleben die Besucher schließlich auf den Aussichtsterrassen im Freien, so nahe dem mächtigen Gipfel des Mönchs, als könnte man ihn mit ausgestrecktem Arm berühren. Inmitten dieser hinreißenden Gletscherwelt, die sich in bizarren Schneewellen und Bergspitzen vor den Augen ausbreitet, packen wirklich jeden euphorische Gefühle. Rund um die eingezäunte Sphinx-Terrasse sitzen Dohlenvögel auf den Kabeln. „Die Kabel dienen der Sicherheit“, erklärt Annemarie. Auf dieser Höhe könne das Wetter ganz schnell umschlagen, „so dass es plötzlich Blitze gibt“, sagt die Schweizerin. Deshalb sei die Terrasse auch als Faradayscher Käfig gestaltet.

Mit der schnellsten Liftanlage der Schweiz – 6,8 Meter pro Sekunde – geht es weitere 108 Meter nach oben auf die Spitze des Berges in 3571 Metern. Noch einmal das ganze Panorama in allen Himmelsrichtungen. Und so gut ist die Sicht, dass man tatsächlich glaubt, in der Ferne bis nach Frankreich, Deutschland und Italien schauen zu können.

Zum Schluss noch ein Blick in den Souvenirshop. Da gibt es Schokolade mit eingedruckten Gletschergipfeln oder Schlittenhunden und Pralinen namens Eiger-Spätzli mit Kirsch oder Cognac aus der Station Eigergletscher, der höchsten Schweizer Confiserie.

Kurz nach 15 Uhr fährt die Jungfraubahn zurück. Umsteigen in die Wengernalpbahn Richtung Grindelwald. Letzte Blicke auf die Eigernordwand, und bei schönstem Nachmittagslicht hinunter ins Lütschental. Es dauert nur einen Tag, um die schönste Schweizer Alpenwelt zu erleben.