Irland. Der Great Western Greenway in Irland – Eine längst vergessene Bahntrasse lockt heute als spektakulärer Radweg.

Manches verändert sich auch in 50 Jahren nicht: Der Speise- und Getränkeservice der irischen Eisenbahn endet auch heute noch auf halber Strecke zwischen Dublin und der Westküste. So wie Anfang der 60er Jahre, als Heinrich Böll in Irlands wilden Westen reiste. Damals wurde der Speisewagen auf halber Strecke nach Westport abgehängt, heute steigt die Servicedame mit Tee und Sandwiches aus, bevor der Zug den Shannon überquert.

Dennoch zieht es viele Menschen in Irlands Westen, der heute weit besser zu erreichen ist als Anfang der 60er, als Böll mit seinem „Irischen Tagebuch“ die bis heute anhaltende Sehnsucht der Deutschen nach der grünen Insel weckte. Der brandneue Zug der Iarnrod Eireann, der irischen Eisenbahn, braucht nur rund dreieinhalb Stunden bis Westport – damals war das noch eine Tagesreise.

Die Schmalspurbahn, die nur für vier Jahrzehnte in den sich stetig entvölkernden Westen führte, war damals schon Geschichte. Heute jedoch ist die 43,5 Kilometer lange Trasse wieder zum Leben erwacht. Als Great Western Greenway lockt die Bahnstrecke jetzt die Radfahrer. Mit jenen Eigenschaften, die Bahn trassenradler auf aller Welt schätzen: keine Autos, kaum Kreuzungen, sanfte Steigungen. Und wer den Westwind fürchtet, bekommt ein Elektrorad: Damit wird der wilde Westen auf jeden Fall gezähmt. Denn aufs Radeln verzichten sollte man auf keinen Fall: Der Greenway lockt mit Ausblicken, die kein anderer Radweg der Welt bieten kann.

Kurz hinter Newport steigt die Trasse ein wenig an und gibt den Blick frei auf die so friedliche Clew-Bay, in der es für jeden Tag im Jahr eine Insel gibt – und eine der 365 Eilande soll sich damals John Lennon gekauft haben. Was bis heute dazu führt, dass sich einige Alt-Hippies auf der Suche nach einem alternativen Lebensstil in diesen äußersten Westen Irlands verirren.

Eines merken sie dabei schnell: Mag die Landschaft noch so reizvoll sein mit Bergen und Buchten, mit Meer und Moor – die Jahreszeiten sind hart, und oft genug gibt es Frust und Lust aller vier Jahreszeiten an einem einzigen Tag.

Zu erleben beispielsweise am Sehnsuchtsberg der Iren, dem Croagh Patrick, der jenseits der Westport Bay in den Himmel ragt wie eine gewaltige Pyramide. Für Tausende von Pilgern entpuppt er sich als übler, steiler Geröllhaufen, der sich gut 760 Meter über das Meer erhebt und selbst im Mai noch Novembernebel und Schneefelder kennt.

Dann hebt Irlands Schutzheiliger Patrick kurz die Wolkendecke und zeigt das Paradies auf Erden: Wiesen und Weiler des ländlichen Irlands, Wellen und Weitblick über den Atlantik. 40 Tage lang soll der Heilige auf dem kargen Hügel gefastet haben und dabei Irland von der bösen Schlange befreit haben.

Ob es die vorher je gegeben hat in diesem Land, das als einziges in Westeuropa das Christentum unter Umgehung der Römer übernahm und die verehrte heidnische Sonne mit dem christlichen Symbol zum Keltenkreuz verschmolz?

Ein echter Ire wird solche Faktenhuberei elegant vom Tisch wischen – mit einer seiner Volksweisheiten: „Einer guten Geschichte darf die Wahrheit niemals im Wege stehen.“

Dem alten Mick Maye in seinem 79. Lebensjahr wollen wir mal trotzdem Glauben schenken, wenn er in seiner ausgebeulten Jacke in der edlen Bar des Ashford Castle sitzt und mit einem Pint seine Erinnerungen an die harte Jugend im Westen Irlands befeuert. Bis zu seinem 18. Lebensjahr kannte er keinen elektrischen Strom – erst zehn Jahre vor Heinrich Böll kam das elektrische Licht in den Westen.

Er und seine sieben Geschwister, „wir haben immer beste Bio-Kost gegessen, auch wenn wir das gar nicht wussten“, verklärt er die Kartoffeln und das Gemüse aus dem eigenen Garten und die selteneren Schinkenscheiben und Lammkeulen.

Er, der sein Arbeitsleben in einem längst stillgelegten Sägewerk verbracht hat, ist froh, dass damals schon das alte Jagdschloss der Brauerei-Dynastie Guinness als Nobelhotel zum Leben erwacht war und seitdem Stars und Politiker aus aller Welt beherbergt hat: U 2, Woody Allen, Ronald Reagan, Harry Belafonte, Christina Ricci und Sharon Stone. Und ein „Herr Schell, Ex-President of Germany“.

Guinness hat in Mick Mayes Ohren einen guten Klang, nicht nur, wenn er durstig ist: Der protestantische Brauereibetreiber galt als sozialer Unternehmer im katholischen Umfeld, baute Kirchen und Schulen für seine Arbeiter. Auch heute ist das große Hotel ein Wirtschaftsfaktor im darbenden irischen Westen.

Maye wird nach dem Pint seinen Heimweg durch den idyllischen Park ins nahe Dörfchen Cong antreten. Aber nicht ohne zuvor berichtet zu haben, dass die Uhr im Schloss turm nicht mehr aufgezogen wird, weil in der Uhrenstube angeblich noch ein verblichener Nachfahre der Guinness-Familie sitzt, der nicht gestört werden will. Man sollte ihm sicherheitshalber glauben. Nachschauen jedenfalls wäre durchaus unhöflich. Und die Wahrheit wäre vermutlich nur halb so interessant wie Mayes Gespenstergeschichte.