Bad Bentheim. Jahrhundertelang war die Figur des Nachtwächters in Europa ganz normal. Jetzt erlebt er im Zeichen des Tourismus einen neuen Boom.

Er ist ein Touristenmagent auf zwei Beinen. Und die tragen Renato Häusler Abend für Abend die vielen Stufen bis ins höchste Kämmerlein der Kathedrale von Lausanne. Seinen Dienstbeginn kann der 54-Jährige trotz des wunderbaren Blicks über den Genfer See zu den Savoyer Alpen nicht verträumen. Dafür läutet die Kirchenglocke zu laut. Kaum ist sie fertig, legt er die Hände an den Mund und ruft: „C’est le guet! Il a sonné dix!“ („Hier ist der Nachtwächter, es hat zehn Uhr geschlagen!“)

Unten wird applaudiert. „Danke, Renato! Du bist ein Schatz!“, ruft eine ältere Frau. Fünfmal pro Woche von 22 bis 2 Uhr verrichtet Häusler den Job des Stundenrufers auf dem Turm. Tagsüber, nach fünf Stunden Schlaf, unterrichtet er blinde Kinder. Die Einsamkeit 30 Meter über der Kathedrale macht ihm längst nicht mehr zu schaffen. Zwischen den „Zeitansagen“ erledigt er dort am Laptop seine Korrespondenz.

Eine Tradition, die ins Mittelalter zurückreicht

Oft wird Häusler gefragt, warum er das auf sich nimmt. Die Antwort des 54-Jährigen ist immer dieselbe: „In den letzten rund 600 Jahren hat diese Aufgabe immer jemand erfüllt, Nacht für Nacht. Mir macht es große Freude, Teil einer Tradition zu sein, die bis ins Mittelalter zurückreicht.“

Als der Vater von zwei Töchtern vor rund 20 Jahren seinen Zweitjob antrat, konnte man die Türmer in Europa an zwei Händen abzählen. Mittlerweile ist die alte Zunft der Nachtwächter und Türmer längst wieder zum Leben erwacht – auch dank der Begeisterung in Deutschland.

Im fränkischen Bad Rodach kamen 1983 zehn ehrenamtliche Nachtwächter und Türmer zum ersten Deutschlandtreffen zusammen. „Der wichtigste Beschluss war die Suche nach Kollegen in anderen Ländern“, erinnert sich Johannes Thier. Der Nachtwächter von Bad Bentheim – im Hauptberuf Bankkaufmann – ist seit 2004 Oberhaupt der Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft. Sie wurde 1987 im dänischen Ebeltoft aus der Taufe gehoben.

Heute hat die Zunft mehr als 160 Mitglieder in mehr als 60 Städten in zehn europäischen Ländern. Und es werden immer mehr. Alljährlich gibt es Zunfttreffen, bei denen neue Mitstreiter aufgenommen werden.

Mitfeiern, bis alle sternhagelvoll sind

Die Kriterien sind streng. „Wir nehmen nur Leute, denen es um die Pflege von Traditionen geht und nicht darum, in Mittelalterkluft bei Touristen ein paar schnelle Euros zu machen.“ Doch die Zunftregeln verbieten den Nachtwächtern, die meist in schwarzen Umhängen und mit Hellebarde und Laterne auftreten, keineswegs den Humor. Nette Anekdoten gehören dazu. Manche lassen den Nachtwächter freilich fast wie einen Nachtschwärmer erscheinen.

In Zürich etwa werden nicht nur Geschichten über „Hübschlerinnen“ erzählt, die in der Bankenmetropole nachts nach reichen Männern Ausschau halten. Man hört auch, wie so mancher Wächter einst die Sperrstunde durchsetzte – indem er mitfeierte bis alle sternhagelvoll waren. Ganz nach dem Motto: „Wenn alle unterm Tisch liegen, ist endlich Ruhe.“

Und auch früher schon wurde der bekannte Nachtwächter-Reim „Hört, ihr Leut und lasst euch sagen...“ gern abgewandelt, wie ein Blick in die Archive zeigt. Da findet sich zum Beispiel dieser: „Junggesellen, lasst euch sagen: Wollt ihr euch zum Mädchen wagen, nehmet euch recht wohl in acht, dass die Mutter nicht erwacht.“dpa