El Hierro. Auf der Kanareninsel El Hierro sind alle verrückt nach Käsekuchen. Gebacken wird er in einer 100 Jahre alten Fabrik.

Kein Auto fährt, niemand ist unterwegs, kein Geschäft hat geöffnet. Wenn man um drei Uhr am Nachmittag durch die Straßen von Valverde geht, kann es passieren, dass man ganz alleine ist. Jetzt schläft El Hierros Hauptstadt, die mit ihren 1700 Einwohnern eigentlich keine richtige Stadt ist.

Es ist so ruhig, dass man seine eigenen Schritte hört. Denn zwischen halb drei und fünf ist Siesta – und die Siesta ist heilig. Einzig in einem cremefarbenen Haus wird gearbeitet. Draußen hört man es durch die geöffneten Fenster schaben und kratzen. Der Duft von frisch Gebackenem zieht auf die Straße. Wenn der Wind günstig steht und vom Meer eine leichte Brise hinaufweht, erfüllt der Wohlgeruch den halben Ort, der sich mit seinen Hangterrassen, Äckern und winzigen Häusern auf 600 Metern über dem Atlantik an den Berg schmiegt.

Es ist ein süßlicher Duft mit einer leicht rauchigen Note. Es ist ein Duft, wie es ihn nur auf El Hierro gibt, der kleinsten der Kanarischen Inseln. Über dem Eingang des Hauses steht in großen, schwarzen Buchstaben: „Fabrica de Quesadillas“ – Käsekuchen- Fabrik.

„Wir haben keine Zeit für Siesta“, sagt Marisol Gutiérrez, die Chefin, „sonst kommen wir mit der Produktion nicht nach.“ Die 69-Jährige steht vor der Tür ihrer Fabrik, die eigentlich keine richtige Fabrik ist. Doch auf El Hierro ist alles etwas kleiner und überschaubarer, also passt das mit der Fabrik schon ganz gut: Vier Angestellte backen rund 2500 Küchlein die Woche. Das ist viel bei gerade mal 10 000 Menschen.

Doch die Herreños sind regelrecht verrückt nach der süßen Spezialität. Nirgendwo auf den Kanaren wird mehr Kuchen gegessen. Keine Familienfeier findet ohne die süße Köstlichkeit statt. Es gibt Tage, da stehen die Kunden in langen Schlangen bis zur Straße hinaus und tragen dann Kartons zu 24 Quesadillas aus der Fabrik. Stückpreis: 1,60 Euro.

In ihrem weißen Kittel und der weißen Hose sieht Marisol Gutiérrez aus wie eine Krankenschwester. „Wir kümmern uns ja auch um das Wohl der Menschen“, sagt Gutiérrez. „Bekommen sie keinen Käsekuchen, geht es ihnen schlecht.“

Das Rezept der guten Laune hat sich in den letzten 100 Jahren nicht verändert: Ziegenkäse, Eier, Mehl, Zucker, Zitrone und ein Hauch Anis. In kleinen Förmchen werden die runden Kuchen bei 180 Grad für 30 Minuten im mit Holz befeuerten Steinofen gebacken. „Eine geheime Mischung gibt es nicht“, sagt die kleine Frau mit den blonden Haaren. Nur zwei Dinge sind besonders wichtig. Zutaten, die es nur auf El Hierro gibt: der Inselkäse, den man direkt bei den Ziegenhirten kauft, und das Holz der Baumheide, das dem Kuchen den rauchigen Beigeschmack gibt.

Im Haus hält José Antonio einen hölzernen Brotschieber in den Händen. Seine Arme sind stark, so dick wie Baumstämme. Auf seiner Stirn haben sich kleine Schweißperlen gesammelt. „Etwas kross müssen sie sein und zugleich zart“, sagt er. Acht Stunden täglich steht er am Ofen der Backstube, schiebt Kuchen hinein und heraus, seit 45 Jahren.

José Antonio hat bereits für den Vater der Chefin gearbeitet, auch den Großvater hat er noch gekannt. Dieser hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Idee für das Rezept und begann, die Quesadillas in großen Mengen herzustellen. In kurzer Zeit wurden sie zum beliebtesten Dessert der Insel. „In unserer Familie hat sich schon immer alles um Käsekuchen gedreht“, sagt Chefin Gutiérrez. Seit 58 Jahren backt sie selbst. Ihr Neffe Juan ist 28 Jahre alt und wird den Betrieb eines Tages leiten. „Das ist sicher“, sagt sie erleichtert. Denn das war ihre größte Sorge: Dass es niemanden geben würde, der die Familientradition fortführt.

Passatwolken haben die Straße in ein milchiges Grau gehüllt, durch das die Sonne fahl wie ein Vollmond scheint. In Valverde kann sich das Wetter minütlich ändern. Hat eben noch die Sonne gewärmt, trägt die Luft nun eine nasse Kälte mit sich. Tropfen sammeln sich in den Haaren und auf der Kleidung.

Sie müsse jetzt wirklich weiterarbeiten, sagt Marisol Gutiérrez und will schon hineingehen. Señora, eine letzte Frage noch: Essen Sie selbst auch Käsekuchen – oder ist Ihnen der Appetit vergangen? Nun überlegt sie länger als gewohnt. Sie denkt laut: „Ob ich das überhaupt sagen darf?“ Ein kleines Geheimnis gibt es nämlich doch, das sie selten jemandem anvertraut hat. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich habe noch nie gerne Süßes gegessen. Ich mag eigentlich viel lieber Salziges.“