Grímsey. Auf dem isländischen Inselchen Grímsey leben nur 86 Menschen, dafür aber Tausende Schwalben, die Touristen attackieren.

Zweieinhalb Tonnen Fisch. Kein schlechter Fang. Schiffseignerin Rannveig Vilhjálmsdóttir könnte zufrieden sein. Vom Kai des Hafens der kleinen Insel Grímsey beobachtet sie, wie ihre Männer Kisten mit Seewolf, Rotbarsch, Kabeljau und Schellfisch von Bord hieven. „Besser als nichts“, grummelt die Unternehmerin, der drei moderne Kutter gehören.

Das 41 Kilometer von der Nordküste Islands entfernte Grímsey liegt in einer der fischreichsten Zonen des Nordatlantiks. Nur 86 Menschen wohnen auf dem gut fünf Quadratkilometer großen, mit Gras bewachsenen Vulkanfelsen. Die Familien sind zumeist verwandt oder verschwägert, fast alle leben vom Fisch – und das offenbar sehr gut. Die Bewohner verfügen angeblich über das höchste Pro-Kopf-Einkommen Islands.

Immer mehr Touristen besuchen das karge Inselchen. Im Sommer sind sie tagsüber in der Überzahl, abgesehen von zigtausend Seevögeln, die in den steilen Felsküsten brüten. Es gibt zwar nicht allzu viel zu sehen auf dem Eiland, das der Legende nach von bösen Trollen erschaffen wurde und seit der Wikingerzeit besiedelt ist. Dass dennoch Gäste aus aller Welt hierher finden, hat vor allem einen Grund: Grímsey liegt auf dem Polarkreis, der die Insel im Norden durchschneidet. Nur ein ein paar hundert Meter langer Zipfel ragt in die arktische Zone hinein.

Die Bewohner machen damit ein gutes Geschäft, verkaufen Polarkreiszertifikate und Shirts. Auch Lian aus Hongkong hat beides gekauft, jetzt braucht sie noch ein Gruppenfoto. Zusammen mit ihren Freunden posiert sie vor einem Schild, das die Entfernungen nach New York (4445 km) und Sydney (16 317 km) anzeigt. Es ist das meist fotografierte Motiv der Insel.

Rannveig Vilhjálmsdóttir hilft gerne und schießt einige Bilder von der Reisegruppe. „Wir lieben Touristen!“ Vor allem, wenn sie Geld dalassen. Zum Beispiel in ihrem Gästehaus „Básar“ einige Meter südlich des magischen Polarkreises. Die ganzjährig geöffnete Pension, die sie mit vier Frauen betreibt, liegt direkt am Flughafen. Der wird mehrmals pro Woche von Akureyri aus angeflogen – sofern das Wetter es zulässt.

Von Akureyri sind es nur 100 Kilometer Luftlinie. Die Seeschwalben auf der Landebahn haben einen Langstreckenflug von bis zu 20 000 Kilometern vom Südpolarmeer hinter sich, wenn sie im Frühjahr auf der Insel landen. Und das nur, um ein bis drei gefleckte Eier auszubrüten und im Spätsommer wieder ans andere Ende der Welt zurückzufliegen.

In Island gelten die kleinen Eier als Delikatesse. „Wir essen sie gerne gekocht mit Zucker drauf“, so Vilhjálmsdóttir. Das macht die Küstenseeschwalben sauer. Da sie nicht zwischen Touristen und Eierdieben unterscheiden können, attackieren sie alles, was sich bewegt. Es sind Szenen wie aus Hitchcocks „Die Vögel“, die sich dann abspielen. Im Steilflug stürzen die Schwalben herab und hacken mit ihren spitzen Schnäbeln Löcher in ungeschützte Köpfe. Auch Kinder greifen sie an. Im Gästehaus „Básar“ hat man sich darauf eingestellt und verteilt zum Schutz durchsichtige Regenschirme an Touristen.

Friedlich sind aber die Papageitaucher, die am Rand der Steilküste brüten. Neugierig hocken sie vor ihrem Bau und blicken mit ihren bunten Gesichtern in die Objektive der Touristen. Die meisten Besucher bleiben eh nur einige Stunden. Mehr Zeit braucht es auch nicht, um das baumlose Eiland zu Fuß zu umrunden.

Im Herbst und Winter, wenn Stürme über den Nordatlantik toben, ist das kleine Eiland ein ungemütlicher Ort. Hell wird es dann nur für einige Stunden, und oft versinkt die Insel tagelang im dichten Nebel. Wem es langweilig wird, der kann auch die drei Kilometer lange Straße vom Dorf zum Flugplatz hin- und herfahren, wie der Besitzer eines PS-starken amerikanischen Pontiac Trans Am. Oder das Hallenschwimmbad sowie die Bibliothek besuchen und sich im örtlichen Männer- und Frauenclub treffen.

Auch Schach ist eine beliebte Freizeitbeschäftigung auf Grímsey. Der amerikanische Gelehrte Daniel Willard Fiske, der die Insel 1879 besuchte, schenkte damals jeder Familie ein Brett mit Figuren. „Heute lernen die Kinder Schach im Unterricht“, erzählt die vierfache Mutter Rannveig. Neun Jungen und Mädchen sind es zurzeit, die in der Inselschule unterrichtet werden.

Einen Polizisten gibt es auf der Insel übrigens nicht. Das ist auch nicht nötig: Jeder kennt jeden. Doch einmal musste die Polizei vom Festland anrücken. In einem verlassenen Haus war offenbar ein Brand gelegt worden. Der Fall ist bis heute ungelöst.