Braunschweig. Sie möchten eine Kreuzfahrt machen, wollen aber nicht im Schiffsgetümmel untergehen? Kein Problem, es gibt auch stille Plätze auf den Ozeanriesen.

Das größte Kreuzfahrtschiff der Welt, die Allure of the Seas, ist mit über 6000 Passagieren ausgebucht. Auf Deck 5, ganz am Heck des 360 Meter langen Ozeanriesen, ist keine Menschenseele. Nur zwei hölzerne Liegestühle an der Reling mit Traumblick ins Kielwasser.

Die Wärme der karibischen Sonne strahlt von oben herab, das Meer rauscht beruhigend von unten herauf. Keine Spur von Massenabfertigung und Sardinenbüchsen-Gefühl. Noch kurz vor der Einschiffung kann sich so mancher Passagier kaum gegen den Gedanken einer gewissen Platzangst an Bord wehren. Ein solches Mega-Schiff ist kein guter Ort für unabhängige Gemüter und Individualisten – so scheint es zumindest. Doch kaum ist man an Bord, fragt man sich, wo die vielen Leute eigentlich alle sind.

Denn der Geheimtipp am Heck ist längst nicht der einzige Platz auf der Allure of the Seas, an dem Individualisten die Seele baumeln lassen und sich dem Trubel am Pool und in den Bars entziehen können.

Es ist paradox: Ausgerechnet die größten Kreuzfahrtschiffe bieten meist mehr Raum für Individualisten und auch insgesamt mehr Platz pro Passagier als kleinere Schiffe in ähnlichen Preisklassen. Mehr Freiraum gibt es lediglich auf echten Luxus-Schiffen, die dem Urlauber dafür allerdings auch preislich einiges abverlangen und zusätzlichen Raum in der Geldbörse schaffen.

Der Trick der Reedereien ist ganz einfach: Je größer das Schiff, desto vielfältiger lässt sich das Unterhaltungsprogramm gestalten, desto mehr Restaurants und Bars für die unterschiedlichsten Ansprüche sind realisierbar.

Für Individualisten aber besonders wichtig: Das Bordprogramm verläuft nicht wie auf einer klassischen Kreuzfahrt in eingefahrenen Bahnen und für alle Passagiere gleichförmig. Das Bordleben auf den Megaschiffen gleicht mehr dem einer kleinen Stadt als dem Urlaub mit einer organisierten Gruppenreise.

Jeder macht, was ihm gerade gefällt und wann es ihm gefällt. Und weil das Angebot so vielfältig ist, verteilen sich die Passagiere recht gleichmäßig übers Schiff. Jeder findet seine Lieblingsecke – ob Jam Session im Jazz Club oder großes Musical-Theater, Liegestuhl am Pool oder Hängematte am Kabinen-Balkon, Sauna oder Panorama-Whirlpool, Bowling oder Eislaufbahn, Weinseminar oder Kochkurs, Shoppingtour oder eine gemütliche Lese-Ecke in der Bibliothek. All die Unterhaltungsprogramme sorgen dafür, dass die Passagiere beschäftigt sind und sich niemand langweilt.

Individualisten brauchen all diese Animation nicht – profitieren aber davon. Denn die stillen, versteckten Plätze, die es auf jedem Schiff gibt, bleiben dadurch Geheimtipps. Schließlich hat kaum einer der anderen Passagiere Zeit, auch nur danach zu suchen.

Der wichtigste Trick von Ruhesuchenden ist aber, sich antizyklisch zu verhalten: Wenn die eine Hälfte der Passagiere beim Abendessen sitzt und die andere Hälfte im Theater die große Abendshow bewundert, herrscht selbst an sonst turbulenten Plätzen friedliche Stille.

Sind tagsüber alle Mann auf Landgang, zieht der Individualist allein und ungestört seine Bahnen im Swimmingpool. Sind die Massen am Pool, freundet er sich mit dem einsamen Barpianisten an und bekommt zur Belohnung sein persönliches Wunschmusik-Programm. Schiffskenner kommen aber selbst ohne solche Tricks auf ihre Kosten. Denn jedes der großen Schiffe hat seine geheimen Ecken und seine verträumten Plätze abseits der Laufwege der meisten Passagiere.

Ein Klassiker, den es auf nahezu jedem Schiff gibt, ist das Promenadendeck.

Unverbaut, nur mit ein paar Sonnenliegen ausgestattet, ist es eigentlich die Aufmarschzone für die Rettungsübung und in Notfällen der Sammelplatz zum Einsteigen in die Rettungsboote. Doch ansonsten ist hier nichts – außer Sonne, Wind, Meeresrauschen und viel Ruhe.

Es mag überraschend klingen, aber die Aussichts-Lounge ist ebenfalls ein Platz für Individualisten, beispielsweise die Viking Crown Lounges auf den Schiffen von Royal Caribbean. Trotz des grandiosen Blicks finden sich in diesen hoch über dem Schiff gelegenen Lounges vor allem vormittags kaum mehr als eine Handvoll Mitreisende.

Wer auf Nummer sicher gehen will, kann Ruhe und Freiheit freilich auf einigen Mega-Schiffen auch kaufen, und das sogar in verschiedenen Varianten. Da sind einmal die strandkorbartigen Alkoven, die etwa auf der MSC Splendida, Celebrity Silhouette oder Mein Schiff 1 und 2 stunden- oder tageweise vermietet werden. Der Passagier bekommt dafür sein eigenes kleines Reich an Deck, abgetrennt vom Rest der Passagiere, um ungestört die Füße hochzulegen und das Nichtstun zu genießen.

Da sind andererseits aber auch komplett vom restlichen Kreuzfahrtschiff separierte Suiten-Komplexe wie auf der Fantasia-Klasse von MSC, auf einigen Schiffen der Norwegian Cruise Line und bei Cunard Line, in der die Bewohner dieser Suiten ihr ganz eigenes Reich mit eigenem Pool, Sonnendeck und Nobelrestaurant, Butler und Cocktail-Lounge ganz entspannt genießen können, weil der Rest der Passagiere zu diesem Luxus-Bereich keinen Zutritt hat. In der Nebensaison sind solche Suiten sogar halbwegs erschwinglich und schon ab 1500 Euro zu bekommen.

Der größte Horror für Individualisten sind freilich die Landgänge. Kippen mehrere Mega-Kreuzfahrtschiffe Tausende von Passagieren gleichzeitig in einem Hafen aus, dann gibt es kaum ein Entrinnen – ein hochgehaltener Regenschirm voraus, eine Herde von 50 Touristen hinterher. Und ist eine Gruppe vorbei, kommt schon gleich die nächste angerauscht. Dagegen hilft nur gute Planung schon vor der Kreuzfahrt: Mietwagen oder persönlichen Tourguide vorab buchen und die Hauptattraktionen meiden. Selbst wenn in der Karibik auf St. Thomas oder in Cozumel schon mal fünf Schiffe über 10 000 Passagiere gleichzeitig ausladen: Die meisten davon fluten die Shopping-Hauptstraße oder gehen auf organisierte Bus- und Bootsausflüge. Für Individualisten bleibt da viel Spielraum an idyllischen Stränden, auf kleinen Märkten und weniger bekannten Orten abseits der Massen.

Wer dennoch Topattraktionen wie beispielsweise die Akropolis in Athen sehen will, sieht zu, dass er als einer der ersten von Bord geht und mit der U-Bahn auf direktem Weg zur Akropolis fährt. Das reicht für einen Vorsprung von mindestens einer Stunde, bevor die Tour-Busse der Kreuzfahrtschiffe ebenfalls ihren Weg dorthin gefunden haben. Trotz aller Geheimtipps und Kniffe: Für besonders freiheitsliebende Urlauber, die am liebsten mit Zelt und Rucksack durch die kanadischen Wälder trampen, ist ein Kreuzfahrtschiff nicht der beste Ort – weder ein großes noch ein kleines.

Doch wer mit ein wenig Scheinwelt zurechtkommt, findet auch auf dem größten Kreuzfahrtschiff seinen heimlichen Lieblingsplatz, um die Weite des Meeres bis zum Horizont zu genießen.