Im Verzasca-Tal kommen Wanderer dem Himmel ein Stück näher

Genüßlich schlürft das perfekt gestylte Jetset-Pärchen an der Uferpromenade von Ascona sündhaft teuren Champagner. Gleichzeitig beißt knapp 2000 Höhenmeter höher der Junge aus einer Wandergruppe herzhaft in eine Salami. Zwei Bilder, die sich eingebrannt haben, weil sie unterschiedlicher kaum sein könnten.

Beide Szenen stammen aus dem Tessin, das so vielfältig ist. Nirgendwo in der Schweiz sind die Villen teurer. Nirgendwo die Hütten uriger. Nirgendwo sind die Berge steiler und die Seeufer lieblicher. "Sonnenstube der Schweiz", schwärmen die Tourismus-Experten und verschweigen, dass hier auch der meiste Niederschlag fällt. Beides stimmt. Ticino, wie die Einheimischen sagen: Der Kanton der Kontraste.

Wir beginnen unsere fünftägige Wanderung mit der Fahrt in einer kleinen Seilbahn bei Bellinzona – hinauf nach Mornera. Wir sind die einzigen Fahrgäste und das soll auf der gesamten Tour so bleiben, während unten am Lago Maggiore drangvolle Enge herrscht.

Die Via Alta della Verzasca ist noch ein echter Insidertipp und dürfte hier eigentlich gar nicht ausgeplaudert werden. Ein Höhenweg, der allerdings erfahrenen Bergwanderern vorbehalten bleibt.

Wer "T6", dem höchsten Schwierigkeitsgrad beim Wandern in der Schweiz mit gelegentlichen Kletterpassagen und weglosen Passagen nicht gewachsen ist, findet in jedem Ort des Verzasca- Tales lohnende Alternativrouten. Denn die Wege in die Berge waren einst lebenswichtig für die Bewohner, die ihre Tiere auf abenteuerlichen Steigen zum Teil über Felstreppen in Steilwänden auf die obersten Weiden führten, auf die sogenannten Maiensässe. Sie wurden auch Hungeralpen genannt, was der Sache sicher noch näher kommt.

Urig übernachten in restaurierten Steinhütten. Wieder so ein Spannungsbogen: Wo die Almbauern einst den Sommer verbrachten, können Bergwanderer heute in liebevoll restaurierten Steinhäusern, den Rusticos, übernachten.

Der örtliche Alpenverein "Societa Escursionistica Verzaschese", SEV, hat fünf Selbstversorgerhütten wie auf einer Perlenkette im Obergeschoss des Tales restauriert, mit Herd, Ofen, Stube und Nachtlager – zuletzt die 2010 eröffnete Capanna Cornavosa. Nur im Juli und August sind diese Hütten so gefragt, dass eine telefonische Anmeldung angeraten wird.

Erste Station auf dem VAV, dem Via Alta della Verzasca, ist die Capanna Borgna, vor deren Pforte lieblich ein glasklarer Bach plätschert, der zu einer herrlichen, willkommenen Erfrischung einlädt. Das schönste Naturschauspiel beginnt, wenn im Westen der Glutball der Sonne hinter steilen Gipfeln versinkt und wenig später eine Sternenstraße mit immer neuen Lichtpunkten am Firmament erscheint, zuletzt mit beeindruckendem dreidimensionalem Tiefblick ins weite Weltall.

Der nächste Tag hat es in sich. Auf dem Felsgrat des Poncione di Piotta turnen wir wie auf einem Dinosaurierrücken. Spärlich eingebohrte Eisenstifte entschärfen nicht die Ausgesetztheit dieses Tourabschnittes, und wir sind froh, ein paar Meter Seil zur Sicherheit mitgenommen zu haben.

Auf der nächsten Hütte begrüßt uns ein Einheimischer erstaunt. Es komme nicht häufig vor, dass Wanderer über diesen halsbrecherischen Kammweg herüber kämen. Die Etappe hat Kraft gekostet. Wir entscheiden, den Weg zur nächsten Hütte zu verschieben und steigen 1500 steile Höhenmeter hinab nach Lavertezzo, dort, wo die flaschengrüne Verzasca herrliche Badegumpen aus dem blanken Granit gewaschen hat.

"Was für ein starker Kontrast zur glitzernden Konsumwelt drunten am Lago Maggiore", schreibt Bergwander-Papst Eugen Hüsler in seinem neuen Buch "Die 40 schönsten Touren im Tessin" (Bruckmann Verlag) über Lavertezzo mit seiner markanten Bogenbrücke.

Wer nach einem erfrischenden Bad wieder Blut leckt, kann flach auf einem zweistündigen Künstlerpfad an dem Wildbach entlang laufen oder nimmt gleich den gelben Postbus nach Sonogno im Talschluss des "steinernen Herzens des Tessins", wie das Verzasca-Tal auch genannt wird.

Dort, 40 Kilometer vom Lago entfernt, warten noch zwei Hütten der SEV, die Capanna Cognora und die Capanna Barone. Wer sich zu ihnen hinaufmüht, hat immer die Viehhirten vor Augen, die nach harten Wintern diese Wege wieder neu in den Fels modellieren mussten, wenn Lawinen und Muren die Steige einfach weggerissen hatten. All das kann der Besucher im Hüttenbuch nachlesen, während er sich einen selbst gepflückten Sauerampfersalat genehmigt.

Höhepunkt und Schlussakkord ist schließlich die Gipfeltour zum Pizzo Barone (2860m), der schon viel näher am Alpenhauptkamm ist als am Seeufer.

Eins ist klar: Die auf dem Höhenweg ausgelassene Efrahütte besuchen wir beim nächsten Mal!