Reise-Trends. Die Wattenpost brachte einst Post von Cuxhaven nach Neuwerk. Heute bringt sie Touristen.

Mit leicht gesenkten Köpfen stapfen Tom und Theo ihrem Ziel entgegen. Klappernde Hufen sind nicht zu hören. Der weiche Wattboden wirkt wie ein dicker, schallschluckender Teppich. Die Haut der beiden Wallache glitzert feucht in der Abendsonne.

Es war ein heißer Tag an der Nordseeküste vor Cuxhaven. Rund drei Stunden ist es her, dass Kutscher Wilfried Möller mit seinem Wagen, den Pferden Tom und Theo sowie acht Touristen zur Wattfahrt in Richtung der Insel Neuwerk aufgebrochen ist. Nun geht es zurück. Insgesamt waren es sieben Kutschen der traditionsreichen Wattenpost, die, wie in der Saison fast täglich, auf die spektakuläre Reise gegangen sind. "Es ist die Nordsee, die uns den Fahrplan diktiert", so Kutscher Wilfried Möller bereits auf der Hinfahrt. "Rund zwei Stunden vor Niedrigwasser müssen wir starten, damit wir die Fahrgäste auch pünktlich und hoffentlich trockenen Fußes wieder in Duhnen abliefern können."

In diesem Ortsteil der alten Hafenstadt Cuxhaven residiert sie bereits seit über 130 Jahren – die Wattenpost. 1880 nahm die Bauernfamilie Brütt von hier einen der originellsten Postdienste Deutschlands auf. Einmal pro Woche brachte Christian Brütt hoch zu Ross die Post hinüber zur Insel Neuwerk. Schon fünf Jahre später spannte er zwei Pferde vor den Wagen und rollte mit zwei PS durch die großen Priele hinüber zur Insel. Daran hat sich bis heute nichts geändert. "Nur dass aus den Postsäcken nun Touristen geworden sind", ergänzt Wilfried Möller lachend, während er seine Pferde mit der Peitsche tätschelnd zu einer etwas flotteren Gangart ermuntert.

Zwölf Kilometer sind es von Duhnen durchs Watt bis zur Insel Neuwerk. Immer entlang der kleinen Buschbaken, die den besten Weg kennzeichnen, führt er hinaus ins Reich der Nordsee. Das Wasser steigt bis zu drei Zentimeter pro Minute. Dabei weiß Wilfried Möller natürlich eine Menge über diese einzigartige Landschaft zu berichten, die seit zwei Jahren Teil des Unesco-Weltnaturerbes ist. Rund 450 Kilometer zieht sich das Wattenmeer von Dänemark bis in die Niederlande. Viel Erfahrung gehört dazu, wenn man mit Fahrgästen auf diese Tour geht. Wissen über Ebbe und Flut und die vielen Eigenwilligkeiten, die Nordsee und Wetter gern mal in den eigentlich exakten Tidenplan "einbauen".

"Die Geschwindigkeit in der das auflaufende Wasser wieder Besitz vom Wattenmeer ergreift, ist sehr windabhängig. Im Normalfall steigt das Wasser rund 1,3 Zentimeter in der Minute. Kommt aber ein steifer Nord-West-Wind auf, können es bis zu drei Zentimeter werden. Da wird eine halbe Stunde Verspätung auf der Rückfahrt schnell zum Problem." Während Tom und Theo die beladene Kutsche durch den tiefsten Priel (Fluss) der Strecke ziehen, reicht ihnen das Wasser bereits bis zum Bauch. Schon zehn Minuten später wäre es eng geworden. "Gut 1,50 Meter Tiefgang vertragen Pferde und Wagen", so der Kutscher. "Auch wenn das Wasser dann bereits in die Kutsche schwappt. Doch sobald die Pferde ins Schwimmen kommen, können sie die Kutsche nicht mehr ziehen."

Ein guter Grund dafür, dass der Hauptkutscher, der als "Führungsfahrzeug" bis zu sechs Kutschen ins Watt begleiten darf, über einen riesigen Erfahrungsschatz verfügen muss. Seine Verantwortung ist immens. Wilfried Möller fährt seit acht Jahren ins Watt. Erst war er mit dem Beifahre schein unterwegs, der ihm gestattete eine Kutsche hinter dem Hauptkutscher zu führen. Nach rund 350 Fahrten durfte er den Selbstfahrerschein erwerben. Das heißt, jetzt kann er mit einer Kutsche allein übers Watt. "Nun brauche ich noch einmal 300 Fahrten. Dann kann ich die Prüfung zum Hauptführerschein angehen."

Ein kompliziertes Prozedere. Mit gutem Grund. Zwar gibt es im Watt vor der Cuxhavener Küste einige Rettungsbaken, doch für ganze Kutschenbesatzungen sind sie nicht gedacht. Aber für so manchen individuellen Wattwanderer waren diese Stahlkäfige in rund vier Metern Höhe, der Tidenhub beträgt 3,90 Meter, die letzte Rettung in höchster Not.

So ein Abschluss der Wattwanderung ist teuer. Kommt die Feuerwehr und holt den Gestrandeten aus dem Käfig, sind rund 300 Euro fällig. Wer verletzt ist, wird kostenlos geborgen Kommt der Seenotrettungskreuzer wird es deutlich teuerer. "Wer sich mit der Zeit verschätzt hat, muss tief in die Geldbörse greifen." Schmunzelnd ergänzt der Kutscher: "Wer sich verletzt hat, wird natürlich kostenlos geborgen. Also darf man nach der Rettung das Hinken nicht vergessen." Ein junger Mann hat sich auf andere Art und Weise um die Kosten gedrückt. Ihn hatte das Abendhochwasser überrascht. Darauf kletterte er in eine der Rettungsbaken, wickelte sich in die dort vorhandene Aludecke und verzichtete auf ein Signalzeichen. Im Halbschlaf verbrachte er die Nacht und marschierte dann im ablaufenden Wasser des Morgens vergnügt an Land zurück. "Provozieren sollte man solche Urlaubserlebnisse aber tunlichst nicht", fügt Wilfried Möller seinen "Abenteuergeschichten" über Gestrandete hinzu.

Im Rahmen der Fahrt mit der Wattenpost ist auf der Insel Neuwerk ein einstündiger Aufenthalt geplant. Gelegenheit, die kleine Insel zu erkunden, die übrigens nicht zu Niedersachsen gehört, sondern Teil der Freien Hansestadt Hamburg ist. Deshalb befindet sich hier auch das älteste Gebäude Hamburgs. Der mächtige, fast 40 Meter hohe Turm der Insel wurde zwischen 1399 und 1410 errichtet. Er war der letzte Zufluchtsort für die Inselbewohner und ist bis heute ihr Wahrzeichen. 140 Stufen führen hinauf. Seit 1814 dient er als Leuchtturm. Die schwere Sturmflut 1962 traf auch Neuwerk hart. Die Insel lief voll. Danach wurden die Deiche erhöht und seither können sich die fast 40 festen Bewohner der Insel über trockene Füße freuen.Auf Neuwerk steht übrigens auch die kleinste Schule Hamburgs. Aktuell lernen dort vier Kinder das ABC.

Für Tim und Theo ist Feierabend. So wie das auflaufende Wasser der Küstenpromenade näher kommt, haben sie ihr Ziel erreicht. Ein letztes Klappern der Hufen auf nun wieder festem Untergrund. Dann herrscht Ruhe. Sie freuen sich auf den Hafersack im heimischen Stall. Die Touristen sicher auf eine leckere Fischmahlzeit am Abend.