In ihrem früheren Leben war Jessica Samuel Eventmanagerin. Zeitdruck, Termine und E-Mails waren Programm – heute spielt das alles keine Rolle mehr. Die 31-Jährige ist auf der Suche nach dem Glück.

Glück. Für Jessica Samuel erstreckt es sich direkt vor ihrem Küchenfenster: satte grüne Wiesen, auf denen eine Handvoll Kühe grasen. Dahinter nichts als die schroffe Bergkette am dunkelblauen Horizont. „Hier auf der Alm sein zu dürfen, ist ein Privileg“, sagt sie und setzt das Messer zum Käseschneiden an.

Vor dem Alpenpanorama des österreichischen Tennengebirges wirkt die junge Frau mit den krausen, zum Zopf gebundenen Locken und der milchkaffeebraunen Haut wie ein Paradiesvogel. Doch der erste Blick täuscht. Die kräftigen Beine der Deutschamerikanerin stecken in derben Lederhosen, ihr Dialekt steht dem der Österreicher in nichts nach. Oben, in 1460 Metern Höhe auf der Losegg-Alm, rufen sie alle nur Jessi.

Anfang Juni ist Jessi mit den Kühen vom Tal in die Berge gezogen. Das Vieh gehört dem Bauern, dessen Alm die Sennerin bis zum September pachtet. Den ganzen Sommer bleibt sie dort – melkt die Kühe, produziert aus der Milch Butter, Quark und Käse für den Verkauf auf der Alm. „Man kann vom Käse schon leben“, sagt die Sennerin. „Aber ich mache das nicht fürs Geld.“

Zwischen Kühen und Käse philosophiert Jessica Samuel über den Sinn des Lebens. „Der Almsommer stellt das Leben völlig auf den Kopf, man ist danach ein anderer Mensch“, glaubt sie. „Dinge, die mir früher wichtig waren, sind heute ganz egal.“ Denn: Eineinhalb Wanderstunden über einen schmalen, schlammig-steinigen Waldweg vom nächsten Dorf entfernt, verlieren alltägliche Selbstverständlichkeiten plötzlich an Bedeutung. „Manchmal gehe ich fünf Tage die Woche nicht duschen, weil das hier oben so belanglos ist.“ Auch die Augenbrauen hat sich Sennerin Jessi seit Wochen nicht gezupft. „In der Stadt wäre mir das nie passiert“, sagt sie, als müsse sie sich dafür entschuldigen.

Strom, Internet und fließend Wasser – das gibt es auf der Losegg-Alm nicht. Doch Jessica Samuel lebt am Fuße der Bischofsmütze, dem höchsten Gipfel des Dachsteinmassivs, ihren Traum.

„Ich bin hier mitten in der Natur mein eigener Herr. Das ist alles, was ich will“, sagt sie. Sieben Jahre hat die südlich von Augsburg geborene Tochter einer Deutschen und eines in Bayern stationierten, texanischen Soldaten der US-Armee in Wien gelebt. „Es war toll. Aber ich komme vom Land und hatte Sehnsucht danach“, erinnert sie sich. „In der Stadt sieht man die Sterne nicht.“

Von der Großstadt in die Abgeschiedenheit der Berge – Jessica Samuel liebt die Extreme.

Als Kind wollte sie Klosterschwester werden. Dann machte sie eine Ausbildung zur Keramikerin und ihr Diplom zur Bewegungswissenschaftlerin. Zuletzt hat die 31-Jährige mit dem schwarzen Krauskopf als Teamleiterin einer großen Kaffeekette und als Eventmanagerin beim Cirque du Soleil gearbeitet.

Heute treibt sie die Kühe morgens um Fünf zum Melken in den Stall, um später deren Milch in einem erhitzten Bottich zu rühren. Stundenlang. Bis diese zu einer dickflüssigen Masse erstarrt. Wenn Jessica Samuel die Molke mit einer Käseharfe in tausend kleine Stücke zerteilt, dann sieht sie aus, als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. „Das, was ich tue, soll ein Ergebnis, eine Wertigkeit haben“, sagt sie. „Wenn die Gäste auf der Alm meinen Käse essen und er ihnen schmeckt, dann ist das etwas Ehrliches, etwas Direktes.“

Die Arbeit auf der Alm ist hart – ein Knochenjob. „Wenn ich um halb sieben in der Frühe aufstehen kann, dann ist das schon Ausschlafen“, sagt Jessi und lacht. „Viele Leute haben eine romantische Vorstellung vom Almleben, die nicht immer stimmt.“

Besonders anstrengend waren die ersten zwei Wochen: „Da war ich mit den Kühen ganz allein hier oben“. Fühlte sie sich da nicht schrecklich einsam? „Es gab schon solche Momente“, gesteht Jessica Samuel. „Wenn es in Strömen geregnet hat und den ganzen Tag niemand auf der Alm eingekehrt ist.“ Doch einsame Momente sind selten. Zur Hochsaison kommen Wandergruppen, Mountainbikefahrer und Familien zur Brotzeit auf die Losegg-Alm. Unterstützung bekommt Jessi in dieser Zeit von Markus. Seinen Doktortitel in Theoretischer Physik hat der junge Mann während des Almsommers gegen Birkenstocksandalen und einen blonden Dreitagebart getauscht.

Doch das Leben in den Bergen bringt extremere Veränderungen mit sich. Für Jessica Samuel ist es auch ein Risiko. „Ich weiß heute noch nicht, wovon ich im Winter leben kann.“ Auch mit der Gerüchteküche, die vom Tal bis auf die Alm hinauf brodelt, muss die Sennerin leben. „Die Leute da unten reden viel. Sie fragen sich, was mit mir nicht stimmt, weil ich hier oben in den Bergen ohne Ehemann lebe.“

So verschroben sie diese Ansichten auch findet – „ich wünsche mir einen Partner, der das Almleben mit mir trägt“. Mit Physiker Markus hat Sennerin Jessi vielleicht den Mann gefunden, mit dem die Alm-Romantik doch noch Wirklichkeit wird. „Wir leben hier unter Extrembedingungen, fast wie in einer Zwangsehe. Keiner kann sich da verstellen“, sagt sie.

Vorm Küchenfenster-Alpenpanorama sind sich die beiden trotzdem – oder gerade deshalb – näher gekommen.