Elbe fließt träge, die Natur ist im Einklang. Doch der östlichste Zipfel Niedersachsens kann auch anders.

Nicht weit entfernt von Hamburg, Hannover und Berlin im östlichsten Zipfel Niedersachsens liegt eine wilde und gleichzeitig beschauliche Region: das Wendland mit seinen Fachwerkstädtchen und Naturschutzgebieten.

Einst grenzten drei seiner Seiten an die DDR, mit der Elbe als Grenzfluss. 40 Jahre lang war das Wendland als Zonenrandgebiet ein vernachlässigter und vergessener Landstrich. Heute ist es immer noch ruhig – die meiste Zeit des Jahres zumindest.

Das ändert sich, sobald ein Castor-Transport ansteht. Dann ist das gesamte Wendland auf den Beinen, der Widerstand gegen das atomare Endlager Gorleben hat zusammengeschweißt. Und eine freigeistige Atmosphäre geschaffen, mit viel Kreativität, kultureller Vielfalt und alternativen Formen der Landwirtschaft und des Lebens.

Freischaffende Künstler, auch aus anderen Regionen Deutschlands, haben sich im Wendland niedergelassen. Seit 1989 findet jedes Jahr zwischen Himmelfahrt und Pfingsten die "Kulturelle Landpartie" statt. Dann öffnen Maler, Bildhauer und andere Künstler ihre Ateliers und Werkstätten, in den Scheunen der Bauernhöfe gibt es Konzerte und Theatervorführungen.

Sind die Besucher weg, tritt im Wendland schnell wieder Ruhe ein. Was die einen als verschlafen empfinden, ist für andere ein wahrer Segen. Dazu gehören zum Beispiel die Naturschützer. Im einst scharf bewachten Niemandsland an der Grenze zur DDR konnte unbehelligt wachsen und gedeihen, was woanders der Flurbereinigung zum Opfer gefallen wäre. Die Elbe zwischen Schnackenburg und Lauenburg wurde nicht zu einer Rennstrecke für Binnenschiffe ausgebaut und zählt heute in diesem Abschnitt zu einem der letzten naturnahen Flüsse Europas.

Kaum zu glauben, wenn man die Elbe nur zwischen Hamburg und der Nordsee als Schifffahrtsstraße für Containerriesen kennt. Doch hier im Wendland fließt sie noch träge vor sich hin, unbeeinflusst von der Hektik eines Hafens und den Notwendigkeiten des effizienten Güterumschlags. In den Auwäldern, auf den Feuchtwiesen, in den Teichen, an den Altarmen und Nebenflüssen wie der Seege leben Pflanzen- und Tierarten, die kaum bekannt sind. Wie beispielsweise der Ortolan, ein kleiner Singvogel, der auf der "Roten Liste" der stark gefährdeten Tierarten steht.

Doch auch bekanntere Vertreter sind hier anzutreffen: Das Trompeten der Kraniche ist selbst im Sommer zu hören – einige Paare ziehen in den Auwäldern ihre Jungen groß. Über ihnen in den Bäumen sieht man die seltenen Schwarzstörche in ihren Nestern, in der Luft zieht der Seeadler seine Kreise, am Boden betätigt sich der Biber als Baumeister, und der Otter geht auf Fischfang.

Im Herbst und im Frühjahr machen zehntausende Zugvögel Station: Gänse, Kraniche und Seevögel aus dem hohen Norden. Die Landschaft steht unter Schutz. Zum einen durch das Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue. Zum anderen durch die Natur- und Landschaftsschutzgebiete des Naturparks Elbufer-Drawehn.

Das rund 120 000 Hektar große Gebiet umfasst beinahe das gesamte Wendland. Was darauf hindeutet, dass es nicht nur entlang der Elbe Schützenswertes gibt. Der zweite Namensgeber des Naturparks, der Drawehn, ist eine Kiesmoräne aus der letzten Eiszeit. Der Höhenzug führt von Schnega im Süden über Clenze, Waddeweitz und Zernien bis nach Hitzacker und durchquert das Wendland einmal von Süden nach Norden. Er wird bei so manchem für Überraschung sorgen, der sich den Norden Deutschlands als ausschließlich plattes Land vorstellt.

Spätestens dann, wenn er mit dem Auto oder dem Fahrrad auf der "Kaffeemühle" unterwegs ist, einer Serpentinenstraße in der Clenzer Schweiz. Zwischen Clenze und dem östlich gelegenen Lüchow findet sich etwas, das es nur hier im Wendland gibt: die Rundlinge. Hinter der märchenhaften Bezeichnung verbergen sich Dörfer. Wer dabei jedoch an niedliche runde Häuschen wie bei den Schlümpfen denkt, liegt falsch. Rundlinge sind Orte, in denen große Fachwerkhäuser kreisförmig um das Zentrum, den Dorfanger, liegen. Das bekannteste Rundling-Dorf ist Lübeln.

Im Freilichtmuseum Wendlandhof können Besucher einiges über diese spezielle Dorfform erfahren. Auch dass eigentlich niemand so richtig weiß, was es denn mit den Rundlingen auf sich hat. Aus welchem Grund sie so angeordnet worden sind, hat noch niemand herausgefunden.

Folgt man dem Drawehn weiter gen Norden, bietet der Hohe Mechtin, mit 142 Metern höchste Erhebung des Wendlands, einen Rundumblick über die Landschaft aus Feldern, Wiesen und Wäldern – und den einen oder anderen Rundlingen. Dort, wo die Eiszeitmoräne kurz vor Hitzacker zur Elbe hin ausläuft, liegt an der westlichen Seite die Göhrde. Einst kaiserliches Jagdrevier, ist es heute einer der größten Staatsforste Deutschlands. Genauer gesagt: Es ist der größte zusammenhängende Mischwald Norddeutschlands. Besonders im Herbst, wenn sich die Blätter von Eichen, Buchen und Ahorn bunt färben, ist dort eine schöne Zeit für Wanderungen.

In den Abendstunden, wenn der Nebel aus dem Boden aufsteigt, kann man etwas ganz Besonderes erleben: die Hirschbrunft.

Mit etwas Glück aus nächster Nähe, aber auf jeden Fall wird man die tiefen, röhrenden Rufe der mächtigen Hirsche hören, wenn sie auf Brautschau gehen.

Bis jetzt müssen sie nur die menschlichen Jäger fürchten. Es könnte aber sein, dass in gar nicht so ferner Zukunft noch jemand aus dem Osten hinzukommt. Der erste Wolf, der sich 2008 ins Wendland traute, musste schnell sein Leben lassen – er wurde abgeschossen. Doch es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis Hirsch, Biber, Otter, Kranich, Seeadler und Storch Gesellschaft bekommen – und die Wölfe das wilde Wendland zurückerobern.