Der Tag beginnt schon wie im Märchen: “In der bestellten Kleinwagen-Kategorie haben wir nichts mehr,“ sagt die Dame am Schalter der Autovermietung in Essen. “Wir geben Ihnen stattdessen einen Z4!“

Kaum das Schloss gedrückt, lässt die 3-Liter-Maschine ein heiseres Knurren hören. Den bösen Golf müssen wir heute nicht mehr fürchten. Das steht so fest wie Schweinchen Schlaus Haus.

Schneller als die gebratene Taube fliegt, erreichen wir die Zieladresse: Märchenwaldweg 15, Altenberg. Unser Fortbewegungsmittel rollt auf einen riesigen grauen Parkplatz. Und nun? "Hier geht es zum Deutschen Märchenwald", weist der gestiefelte Kater mittels Schild den Weg. Ein kurzer Fußmarsch führt über eine Brücke zu einem weiß getünchten Wirtschaftsgebäude mit umlaufendem Balkon. Auf dem Dachfirst eine Wetterfahne in Gestalt einer Hexe, die auf einem Besenstiel reitet. Drinnen sitzt Detlev Kreber gerade beim Mittagessen – Spaghetti Bolo.

Kreber, 47 Jahre, mit seinem kahlrasiertem Schädel dem Gladbacher Fußball-Urgestein Michael Frontzeck nicht unähnlich, ist Geschäftsführer des Märchenwaldes. Gleichzeitig Chefmechaniker, Hausmeister, Gärtner, Tierpfleger, Eis- und Ticketverkäufer in Personalunion.

Es war einmal vor 26 Jahren, da kam der gebürtige Kölner während eines Ausflugs mit zwei Freunden hierher. Zunächst heuerte er als Aushilfe an, dann heiratete er die Prinzessin des Märchenlandes, Wilhelmine, die Parkbetreibertochter. Seitdem hat sich der "kölsche Jong" zum Jägersmann und großen Liebhaber des Bergischen Landes gemausert.

"Jetzt schaut euch aber erstmal um", beauftragt Kreber die Besucher. "Und dann probiert ihr unsere bergischen Waffeln. Spezialität des Hauses." "Belgische Waffeln?!", fragt der unbedarfte Auswärtige nach. "Nein, bergische. Belgische sind aus Hefeteig mit Ei. Unsere dagegen werden nur mit Butter, Zucker und Mehl zubereitet. Außerdem haben sie eine Ecke mehr, sind dafür aber etwas dünner."

Mmmmh, klingt ganz nach Zuckerwerk, wie es der König isst. Aber zuerst die Arbeit, also los. Auf dem Vorplatz wartet der Esel streck dich. Mit 20 Cent kann man ihn füttern. Voll kindlicher Begeisterung entrichten wir den Obolus. "Iah, Iah", schreit der Esel. Das war‘s? Normalerweise funktioniert das Goldeselprinzip doch irgendwie anders. Offenbar ist Geiz nun auch hinter den sieben Bergen geil.

"Im Wald selbst brauchen sie keine Münzen mehr", tröstet Kleber. Wir folgen dem sogenannten Märchenpfad. In kleinen Häuschen sind die Märchen der Grimms in liebevoll arrangierten Szenen von teils bewegten Puppen dargestellt. Auf Knopfdruck ertönen Musik und ein Erzähltext.

Nach fast dreißig Jahren gibt es für Hans ein Wiedersehen mit Hänschens Freunden: Der Gänsemagd, dem Froschkönig, Rosenrot, Schneewittchen nebst Zwergen.

Das Szenario verströmt naiven 60er-Jahre-Rummelplatz-Charme. Eine Wirtschaftswunder-Oase im Reiz-Trommelfeuer des Medienzeitalters. Manche Attraktionen wie Rumpelstilzchen oder Rapunzel erwachen erst auf Zuruf zum Leben. "Hier rufen, Rapunzel lass’ dein Haar herunter", steht auf dem Schild. Schnell finden wir heraus, dass es nicht auf den Wortlaut ankommt. Ein gewöhnliches "Hallo" funktioniert genauso wie beliebige Laute oder schlüpfrige Anrufe. Eine eintreffende Kindergartengruppe verhindert weitere "Dirty-Talk"-Experimente mit Rapunzel.

Nach Verzehr vorzüglicher bergischer Waffeln mit Kirschen und Sahne vom Märchen-Service, dazu ein im Zeitalter der Erlebnisgastronomie ausgestorben geglaubtes Kännchen Kaffee, ist der Augenblick, die Rückreise anzutreten, da. Zurück in den Medienalltag, die große Stadt, die Erwachsenenwelt.