Südtirol. Die Reise-Reportage Eine Winternacht und ein Wintermorgen in der hochalpinen Lagazuoi-Hütte in Südtirol.

Halb drei in der Nacht. Schlafen? Kein Gedanke. Die Luft ist dünn auf knapp 2800 Metern. Die enge Kammer mit den Stockbetten erinnert an ein Schullandheim.

Und dann noch der Fehler mit dem Rotwein am Abend. Alkohol und dünne Luft sind Gift für den ruhigen Schlaf, besonders, weil diese Kombination auch noch das Schnarchen fördert.

Gefühlt haben hier in der Viererkammer alle wohl etwas zu viel getrunken. Zumindest hört es sich so an.

Ganz schön wenig Sauerstoff hier oben aber dafür sollen wir in vier Stunden, wenn die Sonne aufgeht, mit einem Spektakel belohnt werden, das die Nacht im Bettenlager vergessen lässt.

Sonnenaufgang über den Dolomiten, die mächtige Marmolada und die Cinque Torri im Blick. Danach steht eine 13 Kilometer lange Abfahrt hinunter nach Armentarola auf dem Plan, bevor die erste Gondel vom Falzarego-Pass herauf andere Skifahrer ausspuckt.

Da sind wir dann schon auf dem Weg durch eine wilde Dolomitenlandschaft auf einer perfekt präparierten Piste. Über dem Gedanken nicke ich dann doch noch weg.

Die Lagazuoi-Hütte ist nur ein paar Kilometer von den umtriebigen Skizentren in Alta Badia wie St. Kassian, Arabba oder Corvara entfernt, aber eine ganz andere Welt. Mit Bus oder Mini-Taxi geht es von St. Kassian hinauf auf den Falzarego- Pass. Dort oben ist die Grenze zwischen Südtirol und Belluno, am anderen Ende der Bergstraße liegt Cortina d’Ampezzo. Von der Passhöhe führt eine Gondel hinauf auf den Lagazuoi. 800 Höhenmeter fast senkrecht nach oben, das Seil hängt frei, keine Masten, nur eine Station unten und eine oben.

Die Trommelfelle knacken bei den drei Minuten Höhenflug, das Herz pocht und das nicht nur wegen der dünnen Luft. Wer Höhenangst hat, sollte besser in der Mitte stehen. Oder die Augen schließen. Oben pfeift der Wind, die 30 Meter mit geschulterten Ski und Gepäck von der Bergstation hoch zur Hütte schlauchen.Ganz schön wenig Sauerstoff hier.

Rein in die Hütte, Rucksack aufs Stockbett, ein kleines Bier in der warmen Stube zur Begrüßung. Hüttenwirt Guido Pompanin erklärt die Regeln: Das Lager mit bis zu zwölf Betten pro Kammer ist im Parterre. Oben, über dem Gastraum, gibt es Zwei- bis Vierbettzimmer. Duschen gibt es nur unten - und für die braucht man einen Chip für warmes Wasser. Wer es wagt, braucht viel Gefühl. Zwischen kochend heiß und eiskalt liegen nur Millimeter.

Immer wieder wabern Dampfwolken und deftige Flüche aus den Kabinen.

Aber wir sind ja wegen seelischer Wellness hier. Für eine Nacht geht das schon.

Draußen auf der Terrasse liegt die Schäferhündin im eisigen Wind und schaut den Krähen zu, die in der Dämmerung um die Hütte segeln. Drinnen zeigt der Koch, warum Südtirol kulinarisch so gelobt wird. Spinatknödel mit frischem Parmesan, Tagliatelle mit Pilzen, Rinderfilet mit Ratatouille und Polenta. Dazu schwerer Lagrein.

Später, wenn die Höhenwarnung vergessen ist, Espresso und Grappa. Im Sitzen spürt man die dünne Luft nicht, und es vergeht kaum ein Abend, an dem nicht einer nach der Gitarre fragt.

Die Akkorde C, F und G reichen für fast alle Lieder, die man noch so kennt. Und nach dem Grappa ist eh alles egal. Singen wir halt. Ein Gast beherrscht sogar A Moll. Das reicht für „House of the rising sun“.

74 Plätze hat die Hütte. Meist kommen Gruppen, erzählt Guido Pompanin. Aber auch Familien, die für eine Nacht dem normalen Skitourismus entfliehen wollen.

Gegen Mitternacht wird es ruhig in der Stube. Wer die aufgehende Sonne sehen will, muss früh raus.

Frühstück gibt es von halb acht an, die Eier muss man sich selbst kochen - acht Minuten, sonst sind sie wässrig. Hier oben kocht Wasser weit unter 100 Grad. Und dann schnell weg, bevor die anderen herauf kommen. Das ist ja der Kick.

Aber zurück zum Abend: Die Treppe hinauf zu den Kammern wirkt steiler als am Nachmittag. Nicht jeder schafft das noch. Es kommt vor, dass einer auf der Eckbank in der Stube schläft, weil er vergessen hat, in welcher Kammer denn nun sein Rucksack steht. Zähneputzen mit kaltem Wasser, draußen heult der Wind. Noch ein Blick aus dem Fenster. Tausende Sterne, ganz nah, aus den Tälern blinken die Lichter der Skiorte.

Ruhe. Der Schlaf ist, wenn überhaupt, für Flachländer nur leicht. Der Lagrein stresst den Puls, für Menschen mit Herzphobie ist das hier nichts.

Endlich sieben Uhr. Raus aus dem Bett, rein in die Skiklamotten. Bei minus 15 Grad auf die Terrasse, dem Himmel ganz nah. Wolkenfetzen werden langsam rötlich, die Sonne spitzt hinter der Marmolada hervor. Das ist die kurze Nacht wert.

Ein schnelles Frühstück und ab auf die Piste. Kein Mensch, außer den Gästen, zu sehen, selbst die Krähen schlafen noch. Vor uns ein perfekt gewalzter Schneeteppich durch eine wild zerklüftete, hochalpine Landschaft. Platz ohne Ende. Wie überall in der Region von Dolomiti Superski sind sie auch hier Meister der Pisten-Präparation.

Wieder hüpft das Herz - vor Glück. Kurz vor Ende der Piste liegt die kulinarisch hochdekorierte Scotoni Hütte. Aber auch hier ist noch keiner. Vorbei an einem gefrorenen Wasserfall, ein letzter Steilhang, dann wird es flacher: Zurück in der technischen Skiwelt.

Der erste Lift von St. Kassian ist erreicht. Menschen wuseln, Alpenfolklore dudelt aus der Box. Vor dem Lift stehen Kleinbusse. Für fünf Euro fahren sie hoch zur Gondel am Falzarego.

Lift oder Taxi? Ganz klar: Einmal noch ganz nach oben.