Die Reise-Reportage: Mulhouse ist eine Hommage an den Fortschritt und bewahrt doch die Tradition

Mit elsässischen Vorzeigeorten wie Colmar und Straßburg hat Mulhouse wenig gemein. Gerade deshalb lohnt ein Besuch: Die Stadt im Dreiländereck Frankreich/Schweiz/Deutschland ist ein Spiegel der Industriegeschichte im Elsass und zeigt darin die schwierige Suche nach Identität.

Lässt man sich durch Mulhouse navigieren, gewinnt man leicht den Eindruck, die Stadt sei einzig eine Ballung von Vororten. Tatsächlich leben im Großraum Mulhouse mit seinen 32 Gemeinden mehr als eine viertel Million Menschen, in der Kernstadt sind es rund 111 000 Einwohner. Nach Straßburg ist Mulhouse die zweitgrößte Stadt des Elsass – die beiden Schwestern im Norden und im Süden der Region wirken auf den Besucher zunächst wie Goldmarie und Pechmarie. Auch auf den zweiten Blick gibt es weniger Fachwerkromantik, weniger Winstub-Atmosphäre – stattdessen architektonische Perlen aus dem 19. Jahrhundert. Mulhouse war immer schon unabhängiger, auch französischer, und wirbt heute selbstbewusst mit dem Slogan "Das Elsass anders erleben".

Verstehen aber kann die Stadt nur, wer weiß, dass in ihr bis heute – und allen Umbrüchen zum Trotz – das industrielle Herz der Region schlägt. Aus diesem Erbe hat die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten eine Museumslandschaft entwickelt, die nach Paris die zweitgrößte Frankreichs ist. Es ist der Versuch, sich auf der Basis der eigenen Geschichte eine neue Identität zu schaffen.

"Manchester Frankreichs" wurde Mulhouse früher genannt. Die Textilindustrie war neben dem Kali-Bergbau der größte Arbeitgeber der Stadt. Mit der Ansiedlung von Spinnereien, Webereien, Garnherstellern und Druckereien wuchs Mulhouse. Mit der Entdeckung von Billiglohnländern begann Mitte des vorigen Jahrhunderts der Abschied aus dem großen Zeitalter der Textilindustrie. 1962 ließ der Staat ein Peugeot-Werk in Mulhouse bauen – eine Ausgleichsmaßnahme. Heute ist der Automobilbauer der größte Arbeitgeber der Stadt.

Doch das Herz der Region hängt am Garn und an den Stoffen. Es gibt ein Stoffdruckmuseum, ein Tapeten-Museum und eine Hochschule für Textilherstellung. Am jüngsten Kind in der Museumslandschaft lässt sich gut ablesen, wie schwierig und wie kostspielig so eine Identitätsfindung ist. Noch bis 2003 wurden im idyllischen Tal von Wesserling Baumwollstoffe produziert. Dann kam nach immer wieder neuen Wechseln der Eigentümer das endgültige Aus für den Betrieb: 250 Arbeiter wurden entlassen. Ein Drama – denn ein ganzes Tal war Wesserling. Wesserling war Synonym für die 1762 als Königliche Manufaktur gegründete Textilfabrik, die um 1850 rund 6000 Menschen beschäftigt hatte.

Jetzt ist der "Parc Wesserling" eine moderne Variante vom Einklang aus Geschichte, Tourismus und Wirtschaft. Es gibt wieder mehr als 200 Beschäftigte auf dem einstigen und original erhaltenen Werksgelände aus dem 19. Jahrhundert – sie arbeiten im Textil-Museum, in den historischen Gartenanlagen, im Bioladen, in den Kunsthandwerksbetrieben und Galerien, und natürlich in der Gastronomie. Ob das Konzept aufgeht und Wesserling in neuer Form eine Zukunft hat, wird sich zeigen.

Doch der ungetrübte Pioniergeist der Mulhouser lässt keine Zweifel zu. "Wir waren immer schon eine fortschrittsorientierte und -interessierte Stadt", sagt Damian Kuntz. Er arbeitet im Elektrizitätsmuseum "Electropolis". Seine Arbeitsstätte hat, wie so viele andere in der Stadt, ihre Wurzeln ebenfalls in der Textilindustrie. Die "große Maschine", wie Kuntz den dampfbetriebenen Stromgenerator fast ehrfurchtsvoll nennt, war der Grundstein einer inzwischen 12 000 Gegenstände umfassenden Sammlung zur Geschichte der Elektrizität. Der Generator versorgte bis 1947 den Garnhersteller DMC mit Strom. Die Firma liefert ihre hochwertigen Produkte bis heute in alle Welt, den Generator von der Größe eines Eigenheims, braucht sie dafür schon lange nicht mehr. Er wurde in mehr 20000 Arbeitsstunden ab- und wieder aufgebaut und gewährt Electropolis-Besuchern einen Einblick in die Anfänge des Industriezeitalters.

Nicht weit davon entfernt residiert das Nationale Automobilmuseum mit der Sammlung Schlumpf im Gebäude einer ehemaligen Wollspinnerei. Die Sammlung mit ihren rund 400 Autos auf einer Fläche von 17000 Quadratmetern ist vielleicht das renommierteste Museum der Stadt. Doch nur wenige wissen, dass auch sie ganz eng mit der Geschichte der Textil-Metropole verknüpft ist. Die Brüder Fritz und Hans Schlumpf gründeten 1935 ihr erstes Unternehmen und übernahmen im Laufe der Jahrzehnte Aktienmehrheiten an diversen Spinnereien im Elsass. Im Geheimen begann Fritz Schlumpf 1961 mit den Ankauf von historischen Automobilen, vor allem der im Elsass produzierten Marke Bugatti. Sie macht heute rund ein Viertel der Sammlung aus. Alte Autos waren damals vergleichsweise zu Schnäppchenpreisen zu haben. Doch der Ausbau seiner Sammlung zum "Museum Schlumpf" in den Lagerhallen seiner Kammgarnspinnerei in Mulhouse verschlang binnen zehn Jahren etwa 12 Millionen Franc, zugleich geriet die Textilindustrie in eine Krise, die Brüder Schlumpf versuchten ihre Werke zum Spottpreis zu verscherbeln und flohen in die Schweiz. Ihre Autos aber blieben. Nach zähen Gerichtsstreitigkeiten wurde die Sammlung 1980 zum Nationalen Automobilmuseum erklärt. Es war für Stadt ein erster Schritt auf dem Weg in eine vielfältige Museumslandschaft. Seit diesem Sommer ist ein Teil der Oldtimer auf einer museumseigenen "Rennstrecke" an den Wochenenden auch in Aktion zu erleben.

Das Erbe bewahren und sich dabei immer wieder neu erfinden – in diesem Spagat fühlt sich Mulhouse inzwischen zu Hause. Und die Einwohner haben Anteil daran: Seit April diesen Jahres begleiten so genannte "Greeters" interessierte Besucher bei Spaziergängen durch die Stadt. Die Anfragen dazu kommen aus ganz Europa, sogar aus den USA und Brasilien. Zusätzlich verbindet eine moderne Straßenbahn Mulhouse und das hübsche Städtchen Thann miteinander. In Thann beginnt übrigens die Elsässische Weinstraße. Das typische und das andere Elsass sind nicht mal einen Katzensprung von einander entfernt.