Seattle. Wie Kapitäne einer deutschen Fluggesellschaft im Boeing-Werk bei Seattle neue Maschinen abholen

Wenn man das Hallentor einer Produktionshalle von Boeing auf den Boden legen würde, könnte bequem eine Fußballmannschaft darauf spielen.

Doch weil in der Airliner-Produktion alles gleich viele Nummern größer ist als normal, gewöhnt sich das Auge recht schnell an die gewaltigen Dimensionen. In den Riesenhallen werden schließlich aus unzähligen großen und kleinen Teilen die berühmten Boeing-Flugzeuge gebaut. Rund 48 Tage dauert es, bis eine komplettausgestattete und lackierte 737-800 NG fertig ist.

Die Reise nach Renton bei Seattle, dem Heimatwerk von Boeing an der US-amerikanischen Westküste, ist auch für erfahrene Piloten immer wieder ein besonderes Ereignis.

Tim Techt, 35, ist verantwortlich für das kleine Team von Kapitänen, die für Air Berlin neue Flugzeuge übernehmen. Sein Titel: Delivery Commander – was so viel heißt wie Auslieferungs-Kommandeur. Mit seinem Kollegen Kapitän Josef Hartl, 45, hat er nach der Ankunft im Auslieferungsgelände eine Menge zu tun. Unterstützt werden die beiden von mitgereisten Technikern der Airline – auch vier junge Flugbegleiter sind mit von der Partie und hören gespannt und ein bisschen ehrfürchtig zu.

Der wichtigste Teil der Auslieferung ist der Testflug. Wer jetzt meint, dass dabei das dieser Berufsgruppe vorauseilende Selbstbewusstsein und coole Auftreten herausgestellt wird, sieht sich angenehm enttäuscht.

Sehr sachlich berichtet Techt über das genau vorgeschriebene Prozedere. Dazu gehören das bewusste Ausschalten der Triebwerke, natürlich nacheinander, sowie das Abschalten der Hydrauliksysteme. Damit wird getestet, ob der alternative elektrische Antrieb im Notfall eingreifen würde.

Schließlich wird das Fliegen bis an die Belastungsgrenzen des Flugzeugs geprobt. Bei der maximalen Flughöhe der 737-800 NG (NG steht für Next Generation) von 41000 Fuß (rund 12560 Meter) wird wegen der extremen Helligkeit am Tage in dieser Höhe quasi nebenbei auch in der Kabine die bestellte Innenfarbe geprüft.

Auf niedrigerer Flughöhe wird ein Druckabfall simuliert, alle Sauerstoffmasken fallen heraus. Wieder ein erledigter Punkt auf der langen Checkliste. Am Ende müssen sämtliche vom Hersteller und die von der Airline geforderten Eigenschaften erfüllt sein. Ansonsten muss nachgearbeitet werden, erst dann gilt das Flugzeug als abgenommen.

Rund 7000 Menschen arbeiten in den Produktionshallen von Boeing für den Typ 737. 42 Maschinen dieses Modells werden derzeit jeden Monat gefertigt. Im Prinzip geht es hier nicht anders zu als in einer Autowerkstatt – nur halt in XXL. Man staunt, wie die Tragflächen angeschraubt werden, später das Fahrwerk und die Triebwerke.

Die wichtigen technischen Einbauten, wie etwa Radar und Avionik, sehen wir nur aus der Ferne von oben. Wir könnten sonst etwas abschauen. Am Ende der Produktionsstraße stehen Sitzreihen, Galleyeinrichtungen (für Bordverpflegung), Toiletten, Teppiche und Gepäckablagen vor den Flugzeugen.

Jede Airline hat ihre eigenen Anforderungen an die Inneneinrichtung, die hier eingebaut wird. Dann geht das große Tor auf, und wieder verlässt ein fast fertiges Flugzeug die Halle, es muss nur noch zum Lackieren.

Nachdem alle Checks positiv gelaufen sind, die Dokumente ausgestellt und die Kaufsumme geflossen ist, wird die Maschine nach Berlin überführt. Zur Zeremonie gehört auch ein Foto von der Übergabe. Die ganze Crew im Bild, strahlendes Lächeln überall. Dann geht es raus zur Maschine: die neue 737 mit der Registrierung D-ABMB, sinnigerweise vor einem Schild „no parking“. Eine helle großräumige Kabine empfängt uns, deren Decke mit blauem Licht angestrahlt wird und so das Gefühl vermittelt, den Himmel zu sehen.

Eigentlich ist alles klar für den Abflug. Doch Tim Techt berichtet uns von einem kleinen technischen Problem: Ein Spannungswandler ist defekt. Man überprüft gerade, ob ein Ersatzteil da ist und wie man es am effizientesten austauscht.

Man sieht die Piloten und Techniker als Team unaufgeregt an und unter der Maschine diskutieren. Alle Verantwortlichen strahlen Ruhe aus. Auch dann, als die Möglichkeit der Verschiebung des Fluges auf morgen erwogen wird, da die Dienstzeit der Crew für den langen Flug überschritten würde.

Dann ist das Teil da, ein Techniker taucht unter eine Klappe unterhalb des Cockpits. Man sieht nur die Füße, die auf einer kleinen Leiter stehen. Wenige Minuten später gehen die Daumen hoch. Alles okay. Um 17.15 Uhr Ortszeit heben wir vom Boeing-Field ab, Kurs Kanada.

Fast 6000 Kilometer bis zum Tankstopp – die 737 ist für die Mittelstrecke ausgelegt – in Kevlafik auf Island liegen vor uns. Die Kabinen-Crew fühlt sich in ihrer täglichen Arbeitsumgebung sichtlich wohler als bei den offiziellen Anlässen der letzten Tage.

Man spielt mit der Beleuchtung, rätselt und kichert noch über die korrekte Bedienung des Bordinformationssystems und verpflegt die kleine Gruppe der Reisenden gewohnt freundlich. Weil auf Kevlafik dichtes Schneetreiben herrscht, schaltet der Pilot die Automatik aus und landet per Hand. Die Landebahn ist erst in 800 Fuß (rund 250 Meter) Höhe zu erkennen.

„Kein Problem“, sagen die Piloten. Nach Tanken und Enteisen geht’s auf die letzten 2400 Kilometer nach Berlin-Tegel. Als während des Flugs die Sonne aufgeht, ahnt man ein Stück der Faszination des Fliegens.

In Berlin stehen wir auf der Treppe, ein Flieger der gleichen Airline rollt vorbei. „Santa Claus Tour 2011 Flying Home for Christmas“ steht in großen Buchstaben darauf. Alle lächeln. Feine Idee. Die D-ABMB geht in den nächsten Tagen in den normalen Betrieb bei Air Berlin und wird dort auf ihre mehr als 40 Schwestern der 737-Familie treffen.